3.100 Roma in Europa




Roma in Europa

 

1. Einführung - Name(n), Zahlen, Vorurteile


Der amerikanische Publizist Paul Hockenos soll einmal gesagt haben, es sei schwierig, ja praktisch unmöglich, über Roma zu schreiben. Jeder, der sich daran versucht, stößt unweigerlich auf ein einziges Minenfeld, voll mit Stereotypen, Klischees und Vorurteilen. Dennoch will ich diesen Versuch mit diesem Blog unternehmen, stütze mich dabei auf eine Fülle von (zum Teil auch widersprüchlichem) Material und bitte um Nachsicht, wenn ich in diesem „Minenfeld“ vielleicht einmal daneben trete.


1.1 Name(n) und Bezeichnungen

Die Schwierigkeit beginnt bereits beim Namen, der zwischen Eigen- und Fremdbezeichnungen, zwischen historischem und eigenem Selbstverständnis in den verschiedenen Ländern Europas sehr unterschiedlich gebraucht wird. Einen Überblick gibt die nachstehende Tabelle

Die Übersicht zeigt bereits die wichtigsten und gebräuchlichsten Bezeichnungen auf. Dabei ist – wie dargestellt – zwischen Eigen- und Fremdbezeichnungen zu unterscheiden. Bis in die 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts waren Roma im deutschsprachigen Raum nahezu ausschließlich unter dem Namen Zigeuner bekannt. Der Begriff stammt vom griechischen „Athingani“, was in etwa „unberührbar“ bedeutet. In byzantinischen Quellen wird dieser Begriff auf Gruppen angewendet, von denen man sich abgrenzen möchte. Dies galt z. B. auch für die Ketzersekte der Athinganoi. Umgekehrt wollten sich die Roma aber auch aufgrund traditioneller Reinheitsgebote von der übrigen Bevölkerung abgrenzen. Aus „Athingani“ entstanden dann u. a. Cikan (tschechisch), Cigan (slowakisch), Zingaro (italienisch) und Zigeuner (deutsch).[1]  Da diese Bezeichnung von vielen Roma nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten als diskriminierend empfunden wird, vermeidet man sie sinnvollerweise.  Stattdessen einigten sich die versammelten Delegierten beim ersten Roma-Weltkongress im Jahre 1971 auf den weltweit gültigen Namen Roma für die gesamte Ethnie. Das hat aber nicht dazu geführt, dass sich auch alle Roma dieser Festlegung anschlossen.
Großer Widerstand kam z. B. aus Deutschland von den deutschen Sinti, die schon seit dem 14. Jahrhundert in Deutschland leben. So einigte man sich in Deutschland auf die Doppelbezeichnung „Sinti und Roma“, was oft zu Missverständnissen führt. Sinti sind tatsächlich nur ein Teil der gesamten Roma-Familie und leben vor allem im deutschsprachigen Raum. Die deutschen Sinti sind bereits seit dem 14. oder 15. Jahrhundert in den deutschen Sprachraum eingewandert und sind dort und in angrenzenden Staaten seitdem beheimatet. Im französischen Sprachgebiet nennen sie sich Manouches, im niederländischen Manoesje.
Als deutsche Roma bezeichnet man dagegen die im 19. Jahrhundert vom Balkan, vor allem aus den habsburgischen Balkan-Ländern, eingereisten Roma. Von ihnen und vor allem den in jüngster Zeit aus Osteuropa und vom Balkan zugereisten Roma möchten sich die deutschen Sinti bewusst abgrenzen, indem sie darauf hinweisen, dass sie dem deutschen Volk angehören und in diesem Volk integriert sein wollen. Deshalb lehnen viele Sinti auch die Anerkennung als Minderheit ab und wollen keine Sonderrechte. Ihre besondere Sprachvarietät des Romanes wollen sie nur im Familienverbund verwenden und bezeichnen sich als zweisprachige, aber auch deutsche Muttersprachler. In Österreich verständigte man sich auf „Roma und Sinti“ als Oberbegriff. Ausführlichere Angaben zu Sinti und Roma in Deutschland und Roma und Sinti in Österreich siehe dort.
Dennoch gibt es z. B. in Deutschland eine Gruppe von Sinti (zusammengeschlossen in der Sinti-Allianz), die den Oberbegriff Zigeuner akzeptiert, wenn er nicht diskriminierend gebraucht wird. Das gleiche gilt auch für Roma in anderen Staaten wie z. B. Rumänien und Ungarn.[2]  In Großbritannien gibt es noch heute ein „Gypsy-Council“.
 Dabei ist „Gypsy“ abgeleitet von der Annahme, dass die Roma ursprünglich aus Ägypten stammen (siehe Geschichte). In anderen Sprachen entstand daraus Gitan (französisch) oder Gitanos (Spanien, Portugal). Im Kosovo und in Mazedonien bezeichnet sich eine Roma-Gruppe selbst als „Ägypter". In Skandinavien nennt man sie Tatern, wie übrigens auch ab dem 15. Jahrhundert zunächst in Deutschland (fälschlicherweise wohl von Tataren abgeleitet).
Zur Klarstellung hat der Europarat im Jahre  1997 in seiner „Entschließung Nr. 44 betreffend den Beitrag der Roma zum Aufbau eines toleranten Europa“ u. a. in Pkt. 15 festgelegt: ….Beschließt, im Sinne der leichteren Lektüre und besseren Verständlichkeit der Dokumente, alle Gruppen - wie Roma, Zigeuner, Sinti, Manouches, Gitanos usw. - als "Rom(a)" zu bezeichnen;[3]
Fälschlicherweise wird in verschiedenen Veröffentlichungen angegeben, Rom bzw. Mz. Roma bedeute Mensch/Menschen. Vielmehr ist  Roma der Plural von Rom = „Ehemann, Mann“. Die meisten Roma-Gruppen verwenden rom = Mann, romni = Frau sowohl als Verwandtschaftsbezeichnungen mit der Bedeutung Ehemann bzw. Ehefrau als auch als allgemeine Bezeichnung für Personen, die zur Gruppe gehören. Bei den Sinti fehlen letztere Bedeutungen jedoch, weshalb Roma als Allgemeinbezeichnung für die meisten Sinti nicht akzeptabel ist. Für Menschsteht dagegen manuš, wovon die Bezeichnung für die französischen Manouche kommt.[4]
Der Nichtroma oder der Fremde /Andere (manchmal auch der Roma einer anderen Roma-Gruppe) wird in fast allen Romani-Sprachen als Gadže bzw. Gadsche bezeichnet. Fast jede Roma-Gruppe nimmt für sich in Anspruch, die wahren / echten Roma zu sein. Dieses "wahre Romatum" bezeichnet man als "Romanipe"(1)
 
Im  Kosovo und angrenzenden Staaten des ehemaligen Jugoslawien leben die Sondergruppen der Aschkali und der Balkan-Ägypter. Sie grenzen sich von den Romani-Muttersprachlern bewusst ab, da sie in der Regel Serbisch oder Albanisch als Muttersprache sprechen. Außerdem legen sie Wert auf eine andere Herkunfts- und Abstammungsgeschichte. Weitere Einzelheiten zu diesen beiden Sondergruppen enthält mein Post Kosovo.

1.2 Zahlen

Roma sind mit geschätzten ca. 11 Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa. Wie allerdings schon aus den vorigen Zeilen zu erkennen ist, sind Roma kein einheitliches homogenes Volk. Sie gehören sehr unterschiedlichen Gruppen und Stämmen an, die sich auch selbst sehr unterschiedlich definieren, was ihre Sprache, Kultur und das eigene Selbstverständnis angeht.
Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie – von Ausnahmen abgesehen – fast in ganz Europa mehr oder weniger starken Diskriminierungen ausgesetzt sind, teilweise auch heute noch Verfolgungen und Vertreibungen. Daraus folgen auch die sehr unterschiedlichen Angaben zu den Roma-Angehörigen in den verschiedenen Staaten Europas. Einen Überblick gibt das folgende Bild

Besonders in den osteuropäischen Staaten gibt es hinsichtlich genauer Zahlen enorme Unterschiede zwischen den offiziellen staatlichen Statistiken, den Angaben von Roma-Verbänden und Schätzungen von neutralen Kennern der Szene. Dies hängt damit zusammen, dass viele Roma aus Angst vor Diskriminierungen bei einem Zensus angeben, sie gehörten zur Mehrheitsbevölkerung, zumal sie oft auch nur noch die Sprache ihres jeweiligen Aufenthaltslandes beherrschen. Beispielhaft sei auf Bulgarien hingewiesen. Dort lebten entsprechend dem letzten Zensus 392.000 Roma unter einer Bevölkerung von knapp 8 Millionen – verlässliche Schätzungen gehen aber von etwa 700.000 Roma in Bulgarien aus. Bei der Selbsteinschätzung rechnen sich Teile der Roma zu der Minderheit der Türken, andere lehnen den Begriff Roma für sich ab, weil sie nicht mit der Roma-Gruppe der Kalderash gleichgesetzt werden wollen, wieder andere wollen keine Minderheit, sondern Bulgaren sein.[5] Noch größere Schwankungsbreiten gibt es bei den Roma in Rumänien. Hier liegen die Schätzungen zwischen 2 und 5 Millionen Roma.(6)
 
Weitere Einzelheiten über die besonders schwierige Lage der Roma in osteuropäischen Staaten und auf dem Balkan enthält mein Post Roma in Osteuropa
 
Norbert Mappes-Niediek berichtet von Rosia bei Hermannstadt in Siebenbürgen, für jeden und alle aus den Nachbarorten klar und unmissverständlich ein Roma-Dorf mit 1200 Zigeunern und etwa 200 Rumänen. Bei der Volkszählung haben sich jedoch nur zwei Dutzend Einwohner als Roma deklariert. Manche sind zwar nicht im Melderegister verzeichnet, bekommen auch keine Sozialhilfe und ihre Kinder gehen nicht zur Schule, aber eine plausible Erklärung außer der Angst vor Diskriminierung und vor jeglicher Art von Erfassung kann keiner geben, obwohl ja die Diskriminierung durch die Selbstdeklaration nicht geringer wird. [13]

1.3 Roma im Bild der Mehrheitsgesellschaften

Das Bild der Roma in den europäischen Mehrheitsgesellschaften ist neben der fast überall vorhandenen Ablehnung des Fremden äußerst widersprüchlich. Fast durchgehend bestimmen Vorurteile und Klischees die Einschätzung. Einen Überblick über positive und negative Vorurteile gibt die folgende Übersicht:
Man sieht, einerseits empfindet man sie als unheimlich und unterstellt ihnen generell, dass sie Landstreicher sind, auf Kosten anderer leben, stehlen, betrügen, betteln oder ihre Kinder zum Betteln anhalten und schmutzig sind. Andererseits verklärt man das nicht sesshafte "fahrende Volk" und bewundert seine Freiheiten, seine Naturverbundenheit, die Romantik am Lagerfeuer, ihre Fertigkeiten mit Musikinstrumenten und im Tanz, z. B. beim spanischen Flamenco oder der virtuosen ungarischen Geigenmusik. Das Lied "Lustig ist das Zigeunerleben" ist ein Ausdruck dieser anderen Wahrnehmung, wobei es bei den Angehörigen der Volksgruppe eher kritisch gesehen wird: "Erst vertreibt man uns in den Wald und dann wird unser Aufenthalt dort romantisch verklärt"[7]  
Dabei beruhen die Meinungen der Mehrheitsbevölkerung in der Regel selten auf eigenen Erfahrungen, denn in Deutschland gibt es lediglich ca. 70.000 Sinti und Roma, in Österreich ca. 40.000. Wahrgenommen werden allerdings seit den Balkankriegen der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts einige zehntausend Roma-Flüchtlinge und seit der EU-Aufnahme Rumäniens und Bulgariens auch viele Roma, die aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen der dortigen Diskriminierung und Ausgrenzung nach Deutschland und Westeuropa ziehen. Sie konzentrieren sich vor allem auf einige Großstadtviertel, weil sie hier Ansprechpartner haben, werden dort leider auch von gewissenlosen Vermietern ausgenutzt und viele bestätigen auch tatsächlich die negativen Vorurteile, da sie aus dem Teufelskreis von Ausgrenzung, Armut und geringer Bildung nicht heraus kommen.(siehe weitere Hinweise unter 5.)  

2. Sprache


Die Bezeichnung der Sprache der Roma ist Romani oder Romanes (letztere vorwiegend im deutschsprachigen Raum). Sie geht auf das Sanskrit zurück (ca. 700 Basiswörter), und wurde zunächst auf dem Weg von Indien nach Europa durch das Persische, Armenische und Griechische stark beeinflusst. (siehe Geschichte).  Im Laufe der Jahrhunderte kamen viele Lehnwörter aus den Sprachen der jeweiligen Mehrheitsvölker hinzu, in denen die Roma sich niederließen bzw. aufhielten. Daher geht man heute von bis zu 60 verschiedenen Roma-Dialekten aus, die sich sehr stark unterscheiden. Die verschiedenen Dialekte fasst man in Europa zu 5 Hauptdialekten zusammen:  
1. Vlach (von Walachei, am bekanntesten davon das Kalderaš im heutigen Rumänien, Serbien, und durch Migranten Europa- und weltweit), andere Bezeichnungen für diese Gruppe: Gurbet (Serbien, Bosnien, Montenegro, Albanien), Dzambazi (Mazedonien), Banatiski (Vojvodina) , Lovara (Ungarn, Siebenbürgen, Österreich), Usari (Rumänien)
2. Central (vor allem in Ungarn, dem österreichischen Burgenland, Tschechien und der Slowakei),andere Bezeichnung Vend oder Prekmurski (Südwest-Ungarn, Slowenien, Slowakei), Romungro (Ungarn, Slowakei) Versend (Südungarn)
3. Balkan (Serbien, Kosovo, Montenegro, Mazedonien, Nord-Griechenland, Bulgarien), andere Bezeichnungen: Bugurdzi, Rabadzi, Kovaci, Arli (Mazedonien, Kosovo), Sepecides (Nordgriechenland, Türkei um Izmir), Sofia Erli (Bulgarien) u. a. 
4. Nordwest (Sinti-Romani in Mittel- u. Westeuropa, Finnland, Schweden), andere Bezeichnung: Kale (Finnland), Tatern (Schweden)
5. Nordost (Russland, baltische Staaten, Polen), andere Bezeichnung: Xaladitka, Cuxny oder Lotfiko/Loftiko
Hinzu kommen isolierte Romani-Dialekte z.B. Britisch-Romani, Iberisches Romani der Kale in Spanien und Portugal sowie Dialekte in Slowenien, Kroatien und Süditalien. Die verschiedenen Romani-Varietäten werden dann mit entsprechenden Zusätzen bezeichnet, z. B. Sinti-Romani, Kalderaš-Romani, Lovara-Romani, Burgenland-Romani usw. Eine Verständigung zwischen Sprechern von z. B. Sinti-Romani und Balkan-Varietäten ist praktisch nicht möglich oder nur unter Zuhilfenahme von anderen Fremdsprachen.
Auch hinsichtlich der Benutzung der Sprache gibt es große Unterschiede - von sehr guter Beherrschung bis zur Nichtbenutzung. So sprechen beispielsweise in Ungarn nur 20%, in der Slowakei 50% und in Rumänien und Bulgarien etwas über 50% der Roma ihren Romani-Dialekt. Die höchste Sprecherzahl gibt es in Albanien, dem Kosovo und Mazedonien. In Mittel- und Westeuropa sind Roma in der Regel zwei- oder sogar mehrsprachig (s. o. deutsche Sinti). Auch was die Verschriftlichung der Sprache angeht gibt es große Differenzen. Bis ins 20. Jahrhundert gab es keine Schriftstücke auf Romanes, danach in Anlehnung an das jeweilige sprachliche Umfeld sehr unterschiedliche Schreibweisen. Auch hier bilden die deutschen Sinti mit einer generellen Ablehnung der Verschriftlichung die eine Seite der Skala, während die deutschen Roma und der Zentralverband der deutschen Sinti und Roma durchaus schriftliche Dokumente in Romanes anstrebt und verfasst. Das versucht man auch in Österreich mit dem Romani-Projekt der Uni Graz.[8]

3. Geschichte


Roma in ihren verschiedenen Ausprägungen sind seit dem Mittelalter aus Indien über Kleinasien nach Europa eingewandert, möglicherweise wurden sie im Zusammenhang mit der Islamisierung eines Teils von Nordindien vertrieben. 


Wahrscheinlich erfolgten die Wanderbewegungen in mehreren Schüben. Von Indien ging es zunächst nach Persien, ein Teil zog weiter Richtung Afghanistan, Armenien,  Kaukasus, Russland, ein größerer Teil Richtung Kleinasien und Griechenland, wahrscheinlich zogen auch einige weiter über Ägypten und Nordafrika nach Spanien. Eine wichtige Zwischenstation war wohl eine Siedlung Gyppe auf dem Peloponnes, das von Chronisten auch als „Klein-Ägypten“ bezeichnet  und mit dem Land am Nil verwechselt wurde. Deshalb wurden die Roma oft fälschlicherweise als Ägypter bezeichnet (mit den entsprechenden Abwandlungen Gypsies, Gitanos usw.)[9]
Die Weiterwanderung der Roma aus dem Byzantinischen Reich bis nach Westeuropa hängt sicher zusammen mit dem Vordringen der Türken, dem Untergang von Byzanz und mit den damit verbundenen blutigen Kriegshandlungen und Verwüstungen. Ein großer Teil der Roma verblieb allerdings auch im Bereich des späteren Osmanischen Reiches. Sie stellen die Vorfahren der heute auf dem Balkan lebenden Roma dar. Ihr Schicksal beschreibe ich ausführlicher unter 3.103 Roma in Osteuropa.
Der älteste Beleg für das Auftauchen von Roma in Deutschland stammt aus dem Jahre 1407 (Hildesheim), in dem sie noch als Tataren bezeichnet werden. Oft traten die Roma als geschlossene Pilgergruppen auf und ab 1417 gibt es aus vielen mittel- und westeuropäischen Städten Belege für das Auftauchen von Roma, die wie vor als Tataren aber auch Ägypter, Heiden, Sarazenen und auch schon als Zigeuner benannt werden.
Zunächst brachte man dem "fahrenden" Volk gewisse Sympathien entgegen. Man anerkannte ihre Dienstleistungen z. B. als Händler, Hufschmied, Korbflechter und natürlich Musiker, Schausteller usw. Seit dem 19. Jahrhundert nahm die Diskriminierung der Zigeuner in Europa jedoch ständig zu. Im geringsten Fall versuchte man sie sesshaft zu machen und sie zu integrieren. In schlimmeren Fällen nahm man ihnen die Kinder weg, verbot ihnen die Anwesenheit in Städten und ließ sie durch Behörden besonders registrieren und schikanieren. Ähnlich dem Rassenwahn gegen Juden, haben die Nazis in Deutschland und in den von ihnen eroberten Gebieten auch gegen Sinti und Roma zunächst Inhaftierungen, Deportationen und schließlich einen Genozid organisiert, dem allein in Deutschland ca. 25.000 deutsche Sinti und Roma zum Opfer fielen, europaweit gehen die Schätzungen bis zu einer halben Million.[10]  Ausführlichere Informationen über die Geschichte der Roma gebe ich wiederum bei den einzelnen Landesbeschreibungen.
Nach der politischen Wende 1989 und verstärkt seit den Balkankriegen der 90er-Jahre sind Roma in den osteuropäischen Staaten besonders durch Diskriminierungen und Ausgrenzungen belastet, so dass viele ihr Heil in der Auswanderung nach Westen suchen. Eine Auflistung der Situation in den osteuropäischen Staaten wurde in mehreren Ausgaben der Zeitschrift Pogrom von der Gesellschaft für bedrohte Völker veröffentlicht.[11] Unter 3.103 Roma in Osteuropa werde ich weitere Angaben zu den verschiedenen osteuropäischen Staaten machen.

4. Kultur


Kennzeichen der Lebensweise der Roma in Mittel- und Westeuropa war in der Vergangenheit die Nicht-Sesshaftigkeit. Seit dem 18. Jahrhundert, besonders unter Maria-Theresia in den habsburgischen Landen, versuchte man Roma zur Sesshaftigkeit zu veranlassen, teilweise zu zwingen. In der Wahrnehmung der Mehrheitsbevölkerungen galten und gelten sie als Naturtalente des Musizierens und der darstellenden Kleinkunst. Auf Besonderheiten in Deutschland, Österreich, Ost- und Westeuropa werde ich unter den Rubriken 3.101 bis 3.104 eingehen.

5. Politische Situation und Perspektiven

In besonderen Posts behandel ich die spezifischen Probleme der Sinti+Roma.Deutschland, der Roma+Sinti in Österreich und die besonders schwierige Lage der Roma in Osteuropa.  Wichtig für den Schutz der Roma in ganz Europa sind das Rahmenabkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen, ebenfalls vom Europarat verabschiedet. (siehe Literaturhinweise) Leider sind beide Dokumente noch nicht von allen europäischen Staaten ratifiziert.

Da viele osteuropäische Staaten in die EU drängen, konnte und kann bei den Beitrittsverhandlungen Druck auf diese ausgeübt werden, ihre Politik gegenüber Minderheiten und somit auch gegenüber den Roma zu ändern. Die Lage in den schon beigetretenen Staaten (wie z. B. Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Griechenland u. a.) zeigt jedoch, dass hier noch ein langer Weg zu gehen ist. Unterstützt wird der Prozess durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.


2005 haben die EU-Staaten eine Dekade für die Integration der Roma ausgerufen. Ziel war es, in den EU-Staaten in allen Bereichen die Roma juristisch den Nicht-Roma gleichzustellen.
Insbesondere soll die Diskriminierung in Schulen, Krankenhäusern, Arztpraxen oder auf dem Arbeitsmarkt bekämpft werden. Im Sommer 2011 verabschiedete die EU ein Papier, das die „besondere Verantwortung“ der EU für die Sinti und Roma betonte: die so genannte „Roma-Strategie“. Aber auch nach weiteren 10 Jahren ist die Umsetzung der Minderheitenrechte weiterhin ein Problem. Zwar ist die Anerkennung der Minderheitenrechte ein Beitrittskriterium für Staaten, die die EU-Mitgliedschaft erlangen möchten. Aber die Praxis zeigt, dass ein bloßes Bekenntnis zu den Rechten der Sinti und Roma auf dem Papier nicht ausreicht. Es muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, das für eine gute Umsetzung der Rechte notwendig wäre.

Deshalb hat die EU im Oktober 2020 einen neuen Zahnjahresplan beschlossen, der die 2011 beschlossene „Roma-Strategie“ konsequenter umsetzen soll. Darin sind bis 2030 die folgenden Mindestziele vorgesehen:

  • Verringerung des Anteils der Roma, die Diskriminierung erfahren, um mindestens die Hälfte;
  • Verdoppelung des Anteils der Roma, die Diskriminierungserfahrungen melden;
  • Verringerung der zwischen den Roma und der allgemeinen Bevölkerung klaffenden Armutslücke um mindestens die Hälfte;
  • Verringerung der Unterschiede bei der Inanspruchnahme frühkindlicher Erziehung um mindestens die Hälfte;
  • in Mitgliedstaaten mit einer nennenswerten Roma-Bevölkerung Verringerung des Anteils der Roma-Kinder, die segregierte Grundschulen besuchen, um mindestens die Hälfte;
  • Verkleinerung der Beschäftigungslücke sowie der genderspezifischen Beschäftigungslücke um mindestens die Hälfte;
  • Verringerung der Unterschiede bei der Lebenserwartung um mindestens die Hälfte;
  • Verringerung der in Bezug auf Wohnungsnot bestehenden Unterschiede um mindestens ein Drittel;
  • Anhebung des Anteils der Roma mit Zugang zu Leitungswasser auf mindestens 95 %.
Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, nationale Strategien bis September 2021 vorzulegen und alle zwei Jahre über deren Umsetzung Bericht zu erstatten. Es bleibt zu hoffen, dass im begonnenen Jahrzehnt tatsächlich konsequenter an diesen Zielen gearbeitet wird und die EU nun auch Strafen und Sanktionen bei Verstößen umsetzt. Denn insbesondere in Osteuropa und auf dem Balkan stehen durchgreifende Veränderungen noch aus.(siehe 3.103 Roma in Osteuropa) [12]

Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass man das Roma-Problem allein aus dem Gesichtspunkt der Minderheiten-Politik nicht lösen kann. Hierauf macht der Journalist Norbert Mappes-Niediek mit seinem Buch „Arme Roma, böse Zigeuner“[13] aufmerksam. Er weist mit sehr eindringlichen Worten – aufgrund eigener Erfahrungen – darauf hin, dass die bisherigen Methoden allesamt zum Scheitern verurteilt sind, weil man davon ausgeht, die Roma seien nur arm, weil man sie als Volk verachtet und ausgrenzt. Wenn man diese Mehrheitshaltung ändere und den Roma gleiche Chancen einräume, würde sich das Problem schon von selbst lösen. Mappes-Niediek schreibt u. a. die folgenden, sehr bedenkenswerten Sätze:
„Und schaut man sich die Vorbehalte gegenüber Roma genauer an, so stellt man fest: Es sind Ressentiments, wie man sie auf der ganzen Welt gegenüber Armen pflegt – dass sie gar nicht arbeiten wollen, dass sie alles verdiente Geld immer auf den Kopf hauen, statt zu sparen, dass sie so viele Kinder bekommen, um das Kindergeld zu kassieren, dass sie unehrlich sind und stehlen, dass sie sich nicht richtig sauber halten. Alles das, mit exakt denselben Worten, erzählen sich auch Brasilianer über die Bewohner der Favelas und nicht wenige weiße Amerikaner über ihre schwarzen Mitbürger. Es ist eine einfache Umkehr von Ursache und Wirkung: Die Folgen der Armut werden als Grund für die Armut missinterpretiert. Mit anderen Worten: Sie, die Armut, ist der Dreh- und Angelpunkt des Problems. Arm sind die Roma nicht wegen ihrer besonderen Kultur und auch nicht wegen des Rassismus, sondern aus exakt demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in Ost- und Südosteuropa arm sind: Es fehlt an bezahlter Arbeit. Die Beschäftigungsrate ist überall in der Region in den letzten zwanzig Jahren bis auf etwa die Hälfte zurückgegangen. Am stärksten war der Schwund bei den minderqualifizierten, den typischen Roma-Jobs. Nicht Ausgrenzung - wie im Westen - war in Osteuropa historisch das Problem der Roma, sondern ihre niedrige soziale Stellung. Fragt man die Menschen in den Elendssiedlungen Ungarns, Rumäniens oder Serbiens nach ihrem Leben, so erfährt man, dass so gut wie alle jenseits der vierzig früher einen festen Job hatten. Mittlerweile träumen sie nicht einmal mehr davon. …Auch in den Slums sind viele erst gelandet, nachdem sie für ihre Wohnungen die Miete nicht mehr bezahlen konnten. …Weil das so ist, hilft Minderheitenpolitik auch nicht gegen die Armut. Die Roma haben nichts, das sie »autonom« unter einander verteilen könnten. Es gibt viele familiäre und örtliche Gemeinschaften und auch ein vages Gemeinschaftsgefühl von Roma über die Grenzen hinweg, aber es gibt keine organisierte Roma-Gesellschaft und auch keinen Grund, eine solche zu entwickeln. Trotzdem wird – teils bewusst, teils unbewusst – fleißig daran gearbeitet – mit dem Versuch, eine »Roma-Elite« zu schaffen, mit unzähligen Projekten, die von Stiftungen und internationalen Organisationen gefördert werden. Hervorgebracht haben sie eine »Gypsy industry« aus Nichtregierungsorganisationen, die oft nur aus ihrem Vorsitzenden und dessen Bankkonto bestehen und deren Know-how sich im Schreiben von Projektanträgen erschöpft. Den Roma in ihren Slums nützt das Treiben höchstens einmal punktuell; ihre soziale Lage hat sich seit dem Aufblühen der Projektkultur um die Jahrtausendwende eher noch verschlechtert. Wenn Fonds mehr oder weniger ausdrücklich nur für Roma bereitgestellt werden, schafft das in den verelendeten Regionen des Balkan überdies noch Neid und böses Blut.
Zehntausende Gastarbeiter-Roma aus Jugoslawien leben schon seit den 1960er und 1970er Jahren unerkannt und unauffällig in Mittel- oder Westeuropa. Dass sie sich nicht zu erkennen geben, ist ein trauriges Zeichen dafür, dass es noch immer viele Vorurteile gibt. Dass sie sich aber so mühelos verstecken können, ist der Beweis, dass ihre Kultur eben nicht das Problem ist.
Als »Roma-Problem« lassen sich die Probleme der (osteuropäischen) Roma und die Probleme mit ihnen nicht lösen. Wenn etwas besser werden soll, müssen die Probleme zunächst bei ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie heißen Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere oder unterfinanziertes Gesundheitswesen. Sie zu lösen ist teurer und weniger bequem als die Gründung und Finanzierung eines weiteren Roma-Beirats. Westeuropa braucht eine Modernisierung von Bildungswesen und Verwaltung, Osteuropa zusätzlich ein Infrastrukturprogramm, nicht nur wegen der Roma. Aber wenn wir uns den nötigen Reformen nicht stellen, bleibt auch die große europäische Strategie zur Emanzipation der Roma bloß billige Heuchelei.
Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Ich möchte das Buch ausdrücklich empfehlen, zumal es auch viele weitere Hinweise zum Verständnis der Situation der Roma in Europa gibt.

Literatur-Hinweise
Neben den in den Fußnoten bereits angeführten Dokumenten verweise ich noch auf folgende Unterlagen, die ich  z. T. bei der Abfassung dieses Posts als Unterlage benutzt habe:
- Klaus Ludwig: "Ethnische Minderheiten in Europa" Beck'sche Reihe 1115
- Das Parlament v. 20. 8. 1999, S. 16 "Unter allen Fremden sind Sinti und Roma die Fremdesten"
- pogrom 199 - März/April 1999 "Anerkennung als Nation oder Minderheitenrechte"
- Salzburger Nachrichten v. 8. 4. 2012 "Roma-Tag" erinnert an größte Minderheit Europas
- Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 22/23 vom 30. 5. 2011 "Sinti und Roma"
- Rahmenabkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/157.htm
- Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen
http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/QueVoulezVous.asp?CL=GER&NT=148


[1] http://romani.uni-graz.at/rombase und Dieter W. Halwachs/Romani Projetkt: "Roma und Romani in Österreich"
[2] http://www.sinti-allianz.de/sinti-und-roma.html , http://www.oei.fu-berlin.de/Projektkurse/2006_7/reinventing/teilprojekte/roma/roma_in_osteuropa_studie.pdf ,http://anti-ziganismus.de/artikel/roma-in-rumaenien/ (Zitat: Der überwiegende Teil der Roma bezeichnet sich jedoch als «tigan»/«cigany» und verzichtet auf die traditionelle Zuordnung)

[4] http://romaniprojekt.uni-graz.at//romani-introduction.de.html

[5] Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 22/23/2011 Sinti und Roma, darin Herbert Heuss „Roma und Minderheitenrechte in der EU. Anspruch und Wirklichkeit“ S.23
[7] Interview mit der deutschen Sinteza Dotschy Reinhardt, einer Jazz-Sängerin, im Tagesspiegel http://www.tagesspiegel.de/zeitung/dotschy-reinhardt-ich-will-nicht-so-deutsch-wie-moeglich-leben/1318352.html
[8] siehe u. a. http://de.wikipedia.org/wiki/Sinti_und_Roma und http://romaniprojekt.uni-graz.at//romani-introduction.de.html
[9] http://romani.uni-graz.at/rombase/
[10] Informationen zur Politischen Bildung Nr. 271 / 2001 und Michael Zimmermann: "Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma" in Aus Politik und Zeitgeschichte B 16-17 / 1987 S. 31 - 45
[11] pogrom Nr. 225 - 3/2004, pogrom Nr. 254 - 3/2009 u. a.
[13] Norbert Mappes-Niediek: „Arme Roma, böse Zigeuner“ – Bundeszentrale für politische Bildung Band 1385, Bonn 2013

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