Roma in Europa
1. Einführung - Name(n), Zahlen, Vorurteile
Der amerikanische Publizist Paul Hockenos
soll einmal gesagt haben, es sei schwierig, ja praktisch unmöglich, über Roma
zu schreiben. Jeder, der sich daran versucht, stößt unweigerlich auf ein
einziges Minenfeld, voll mit Stereotypen, Klischees und Vorurteilen. Dennoch
will ich diesen Versuch mit diesem Blog unternehmen, stütze mich dabei auf eine
Fülle von (zum Teil auch widersprüchlichem) Material und bitte um Nachsicht,
wenn ich in diesem „Minenfeld“ vielleicht einmal daneben trete.
1.1 Name(n) und Bezeichnungen
Die Schwierigkeit beginnt bereits beim Namen,
der zwischen Eigen- und Fremdbezeichnungen, zwischen historischem und eigenem
Selbstverständnis in den verschiedenen Ländern Europas sehr unterschiedlich
gebraucht wird. Einen Überblick gibt die nachstehende Tabelle
Die Übersicht zeigt bereits die wichtigsten
und gebräuchlichsten Bezeichnungen auf. Dabei ist – wie dargestellt – zwischen
Eigen- und Fremdbezeichnungen zu unterscheiden. Bis in die 80er-Jahre des
vorigen Jahrhunderts waren Roma im deutschsprachigen Raum nahezu ausschließlich
unter dem Namen Zigeuner bekannt. Der Begriff stammt vom griechischen
„Athingani“, was in etwa „unberührbar“ bedeutet. In byzantinischen Quellen wird
dieser Begriff auf Gruppen angewendet, von denen man sich abgrenzen möchte.
Dies galt z. B. auch für die Ketzersekte der Athinganoi. Umgekehrt wollten sich
die Roma aber auch aufgrund traditioneller Reinheitsgebote von der übrigen
Bevölkerung abgrenzen. Aus „Athingani“ entstanden dann u. a. Cikan
(tschechisch), Cigan (slowakisch), Zingaro (italienisch) und Zigeuner
(deutsch).
Da diese Bezeichnung
von vielen Roma nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten als
diskriminierend empfunden wird, vermeidet man sie sinnvollerweise. Stattdessen einigten sich die versammelten
Delegierten beim ersten Roma-Weltkongress im Jahre 1971 auf den weltweit
gültigen Namen Roma für die gesamte Ethnie. Das hat aber nicht dazu geführt,
dass sich auch alle Roma dieser Festlegung anschlossen.
Großer Widerstand kam z. B. aus Deutschland
von den deutschen Sinti, die schon seit dem 14. Jahrhundert in Deutschland
leben. So einigte man sich in Deutschland auf die Doppelbezeichnung „Sinti und
Roma“, was oft zu Missverständnissen führt. Sinti sind tatsächlich nur ein Teil
der gesamten Roma-Familie und leben vor allem im deutschsprachigen Raum. Die
deutschen Sinti sind bereits seit dem 14. oder 15. Jahrhundert in den deutschen
Sprachraum eingewandert und sind dort und in angrenzenden Staaten seitdem
beheimatet. Im französischen Sprachgebiet nennen sie sich
Manouches, im niederländischen Manoesje.
Als deutsche Roma bezeichnet man dagegen die
im 19. Jahrhundert vom Balkan, vor allem aus den habsburgischen Balkan-Ländern,
eingereisten Roma. Von ihnen und vor allem den in jüngster Zeit aus Osteuropa
und vom Balkan zugereisten Roma möchten sich die deutschen Sinti bewusst
abgrenzen, indem sie darauf hinweisen, dass sie dem deutschen Volk angehören
und in diesem Volk integriert sein wollen. Deshalb lehnen viele Sinti auch die
Anerkennung als Minderheit ab und wollen keine Sonderrechte. Ihre besondere
Sprachvarietät des Romanes wollen sie nur im Familienverbund verwenden und
bezeichnen sich als zweisprachige, aber auch deutsche Muttersprachler. In
Österreich verständigte man sich auf „Roma und Sinti“ als Oberbegriff. Ausführlichere
Angaben zu Sinti und Roma in Deutschland und Roma und Sinti in Österreich siehe
dort.
Dennoch gibt es z. B. in
Deutschland eine Gruppe von Sinti (zusammengeschlossen in der Sinti-Allianz),
die den Oberbegriff Zigeuner akzeptiert, wenn er nicht diskriminierend
gebraucht wird. Das gleiche gilt auch für Roma in anderen Staaten wie z. B.
Rumänien und Ungarn. In Großbritannien gibt es noch
heute ein „Gypsy-Council“.
Dabei ist „Gypsy“ abgeleitet von der Annahme, dass
die Roma ursprünglich aus Ägypten stammen (siehe Geschichte). In anderen
Sprachen entstand daraus Gitan (französisch) oder Gitanos (Spanien, Portugal).
Im Kosovo und in Mazedonien bezeichnet sich eine Roma-Gruppe selbst als
„Ägypter". In Skandinavien nennt man sie Tatern, wie
übrigens auch ab dem 15. Jahrhundert zunächst in Deutschland (fälschlicherweise
wohl von Tataren abgeleitet).
Zur
Klarstellung hat der Europarat im Jahre
1997 in seiner „Entschließung Nr. 44 betreffend den Beitrag der Roma zum
Aufbau eines toleranten Europa“ u. a. in Pkt. 15 festgelegt: ….Beschließt, im Sinne der leichteren Lektüre und besseren
Verständlichkeit der Dokumente, alle Gruppen
- wie Roma, Zigeuner, Sinti, Manouches, Gitanos usw. -
als "Rom(a)" zu bezeichnen;
Fälschlicherweise wird in
verschiedenen Veröffentlichungen angegeben, Rom bzw. Mz. Roma bedeute Mensch/Menschen.
Vielmehr ist Roma
der Plural von
Rom =
„Ehemann, Mann“. Die meisten Roma-Gruppen verwenden rom
= Mann,
romni = Frau
sowohl
als Verwandtschaftsbezeichnungen mit der Bedeutung „Ehemann“ bzw. „Ehefrau“ als auch als allgemeine Bezeichnung
für Personen, die zur Gruppe gehören.
Bei
den Sinti fehlen letztere Bedeutungen jedoch, weshalb Roma als
Allgemeinbezeichnung für die meisten Sinti nicht akzeptabel ist. Für „Mensch“ steht
dagegen manuš, wovon die Bezeichnung für die
französischen Manouche kommt.
1.2 Zahlen
Roma sind mit geschätzten ca. 11 Millionen
Menschen die größte Minderheit in Europa. Wie allerdings schon aus den vorigen
Zeilen zu erkennen ist, sind Roma kein einheitliches homogenes Volk. Sie
gehören sehr unterschiedlichen Gruppen und Stämmen an, die sich auch selbst
sehr unterschiedlich definieren, was ihre Sprache, Kultur und das eigene Selbstverständnis
angeht.
Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie – von
Ausnahmen abgesehen – fast in ganz Europa mehr oder weniger starken
Diskriminierungen ausgesetzt sind, teilweise auch heute noch Verfolgungen und
Vertreibungen. Daraus folgen auch die sehr unterschiedlichen Angaben zu den
Roma-Angehörigen in den verschiedenen Staaten Europas. Einen Überblick gibt das
folgende Bild
Besonders
in den osteuropäischen Staaten gibt es hinsichtlich genauer Zahlen enorme
Unterschiede zwischen den offiziellen staatlichen Statistiken, den Angaben von
Roma-Verbänden und Schätzungen von neutralen Kennern der Szene. Dies hängt
damit zusammen, dass viele Roma aus Angst vor Diskriminierungen bei einem
Zensus angeben, sie gehörten zur Mehrheitsbevölkerung, zumal sie oft auch nur
noch die Sprache ihres jeweiligen Aufenthaltslandes beherrschen. Beispielhaft
sei auf Bulgarien hingewiesen. Dort lebten entsprechend dem letzten Zensus
392.000 Roma unter einer Bevölkerung von knapp 8 Millionen – verlässliche
Schätzungen gehen aber von etwa 700.000 Roma in Bulgarien aus. Bei der
Selbsteinschätzung rechnen sich Teile der Roma zu der Minderheit der Türken,
andere lehnen den Begriff Roma für sich ab, weil sie nicht mit der Roma-Gruppe
der Kalderash gleichgesetzt werden wollen, wieder andere wollen keine
Minderheit, sondern Bulgaren sein.
Noch größere Schwankungsbreiten gibt es bei den Roma in Rumänien. Hier liegen
die Schätzungen zwischen 2 und 5 Millionen Roma.
1.3 Roma im Bild der Mehrheitsgesellschaften
Das Bild der Roma in den europäischen
Mehrheitsgesellschaften ist neben der fast überall vorhandenen Ablehnung des
Fremden äußerst widersprüchlich. Fast durchgehend bestimmen Vorurteile und
Klischees die Einschätzung. Einen Überblick über positive und negative
Vorurteile gibt die folgende Übersicht:
Man sieht, einerseits empfindet man sie als
unheimlich und unterstellt ihnen generell, dass sie Landstreicher sind, auf
Kosten anderer leben, stehlen, betrügen, betteln oder ihre Kinder zum Betteln
anhalten und schmutzig sind. Andererseits verklärt man das nicht sesshafte
"fahrende Volk" und bewundert seine Freiheiten, seine
Naturverbundenheit, die Romantik am Lagerfeuer, ihre Fertigkeiten mit
Musikinstrumenten und im Tanz, z. B. beim spanischen Flamenco oder der
virtuosen ungarischen Geigenmusik. Das Lied "Lustig ist das
Zigeunerleben" ist ein Ausdruck dieser anderen Wahrnehmung, wobei es bei
den Angehörigen der Volksgruppe eher kritisch gesehen wird: "Erst
vertreibt man uns in den Wald und dann wird unser Aufenthalt dort romantisch
verklärt"
Dabei beruhen die Meinungen der
Mehrheitsbevölkerung in der Regel selten auf eigenen Erfahrungen, denn in
Deutschland gibt es lediglich ca. 70.000 Sinti und Roma, in Österreich ca. 40.000.
Wahrgenommen werden allerdings seit den Balkankriegen der 90er-Jahre des
vorigen Jahrhunderts einige zehntausend Roma-Flüchtlinge und seit der
EU-Aufnahme Rumäniens und Bulgariens auch viele Roma, die aus wirtschaftlichen
Gründen, aber auch wegen der dortigen Diskriminierung und Ausgrenzung nach
Deutschland und Westeuropa ziehen. Sie konzentrieren sich vor allem auf einige
Großstadtviertel, weil sie hier Ansprechpartner haben, werden dort leider auch
von gewissenlosen Vermietern ausgenutzt und viele bestätigen auch tatsächlich
die negativen Vorurteile, da sie aus dem Teufelskreis von Ausgrenzung, Armut
und geringer Bildung nicht heraus kommen.(siehe weitere Hinweise unter 5.)
2. Sprache
Die Bezeichnung der Sprache der Roma ist
Romani oder Romanes (letztere vorwiegend im deutschsprachigen Raum). Sie geht
auf das Sanskrit zurück (ca. 700 Basiswörter), und wurde zunächst auf dem Weg
von Indien nach Europa durch das Persische, Armenische und Griechische stark
beeinflusst. (siehe Geschichte). Im
Laufe der Jahrhunderte kamen viele Lehnwörter aus den Sprachen der jeweiligen
Mehrheitsvölker hinzu, in denen die Roma sich niederließen bzw. aufhielten.
Daher geht man heute von bis zu 60 verschiedenen Roma-Dialekten aus, die sich
sehr stark unterscheiden. Die verschiedenen Dialekte fasst man in Europa zu 5
Hauptdialekten zusammen:
1. Vlach (von Walachei, am bekanntesten
davon das Kalderaš im heutigen Rumänien, Serbien, und durch Migranten Europa-
und weltweit), andere Bezeichnungen für diese Gruppe: Gurbet (Serbien, Bosnien, Montenegro, Albanien), Dzambazi (Mazedonien), Banatiski (Vojvodina) , Lovara (Ungarn, Siebenbürgen, Österreich), Usari (Rumänien)
2. Central (vor allem in Ungarn, dem
österreichischen Burgenland, Tschechien und der Slowakei),andere Bezeichnung Vend oder Prekmurski (Südwest-Ungarn, Slowenien, Slowakei), Romungro (Ungarn, Slowakei) Versend (Südungarn)
3. Balkan (Serbien, Kosovo, Montenegro, Mazedonien,
Nord-Griechenland, Bulgarien), andere Bezeichnungen: Bugurdzi, Rabadzi, Kovaci, Arli (Mazedonien, Kosovo), Sepecides (Nordgriechenland, Türkei um Izmir), Sofia Erli (Bulgarien) u. a.
4. Nordwest (Sinti-Romani in Mittel- u. Westeuropa, Finnland, Schweden), andere Bezeichnung: Kale (Finnland), Tatern (Schweden)
5. Nordost (Russland, baltische Staaten, Polen), andere Bezeichnung: Xaladitka, Cuxny oder Lotfiko/Loftiko
Hinzu kommen isolierte Romani-Dialekte z.B.
Britisch-Romani, Iberisches Romani der Kale in Spanien und Portugal sowie Dialekte in Slowenien, Kroatien und
Süditalien. Die verschiedenen Romani-Varietäten werden dann mit entsprechenden
Zusätzen bezeichnet, z. B. Sinti-Romani, Kalderaš-Romani, Lovara-Romani,
Burgenland-Romani usw. Eine Verständigung zwischen Sprechern von z. B.
Sinti-Romani und Balkan-Varietäten ist praktisch nicht möglich oder nur unter
Zuhilfenahme von anderen Fremdsprachen.
Auch hinsichtlich der Benutzung der Sprache
gibt es große Unterschiede - von sehr guter Beherrschung bis zur
Nichtbenutzung. So sprechen beispielsweise in Ungarn nur 20%, in der Slowakei
50% und in Rumänien und Bulgarien etwas über 50% der Roma ihren Romani-Dialekt.
Die höchste Sprecherzahl gibt es in Albanien, dem Kosovo und Mazedonien. In
Mittel- und Westeuropa sind Roma in der Regel zwei- oder sogar mehrsprachig (s. o. deutsche
Sinti). Auch was die Verschriftlichung der Sprache angeht gibt es große
Differenzen. Bis ins 20. Jahrhundert gab es keine Schriftstücke auf Romanes, danach
in Anlehnung an das jeweilige sprachliche Umfeld sehr unterschiedliche
Schreibweisen. Auch hier bilden die deutschen Sinti mit einer generellen
Ablehnung der Verschriftlichung die eine Seite der Skala, während die deutschen
Roma und der Zentralverband der deutschen Sinti und Roma durchaus schriftliche
Dokumente in Romanes anstrebt und verfasst. Das
versucht man auch in Österreich mit dem Romani-Projekt der Uni Graz.
3. Geschichte
Roma in ihren verschiedenen Ausprägungen sind
seit dem Mittelalter aus Indien über Kleinasien nach Europa eingewandert,
möglicherweise wurden sie im Zusammenhang mit der Islamisierung eines Teils von
Nordindien vertrieben.
Wahrscheinlich erfolgten die Wanderbewegungen
in mehreren Schüben. Von Indien ging es zunächst nach Persien, ein Teil zog
weiter Richtung Afghanistan, Armenien, Kaukasus, Russland, ein größerer Teil Richtung
Kleinasien und Griechenland, wahrscheinlich zogen auch einige weiter über
Ägypten und Nordafrika nach Spanien. Eine wichtige Zwischenstation war wohl
eine Siedlung Gyppe auf dem Peloponnes, das von Chronisten auch als
„Klein-Ägypten“ bezeichnet und mit dem Land am Nil verwechselt wurde.
Deshalb wurden die Roma oft fälschlicherweise als Ägypter bezeichnet (mit den
entsprechenden Abwandlungen Gypsies, Gitanos usw.)
Die Weiterwanderung der Roma aus dem Byzantinischen Reich bis nach Westeuropa hängt sicher
zusammen mit dem Vordringen der Türken, dem Untergang von Byzanz und mit den
damit verbundenen blutigen Kriegshandlungen und Verwüstungen. Ein großer Teil
der Roma verblieb allerdings auch im Bereich des späteren Osmanischen Reiches.
Sie stellen die Vorfahren der heute auf dem Balkan lebenden Roma dar. Ihr
Schicksal beschreibe ich ausführlicher unter 3.103 Roma in Osteuropa.
Der älteste Beleg für das Auftauchen von Roma
in Deutschland stammt aus dem Jahre 1407 (Hildesheim), in dem sie noch als
Tataren bezeichnet werden. Oft traten die Roma als geschlossene Pilgergruppen
auf und ab 1417 gibt es aus vielen mittel- und westeuropäischen Städten Belege
für das Auftauchen von Roma, die wie vor als Tataren aber auch Ägypter, Heiden,
Sarazenen und auch schon als Zigeuner benannt werden.
Zunächst brachte man dem
"fahrenden" Volk gewisse Sympathien entgegen. Man anerkannte ihre
Dienstleistungen z. B. als Händler, Hufschmied, Korbflechter und natürlich
Musiker, Schausteller usw. Seit dem 19. Jahrhundert nahm die Diskriminierung
der Zigeuner in Europa jedoch ständig zu. Im geringsten Fall versuchte man sie
sesshaft zu machen und sie zu integrieren. In schlimmeren Fällen nahm man ihnen
die Kinder weg, verbot ihnen die Anwesenheit in Städten und ließ sie durch
Behörden besonders registrieren und schikanieren. Ähnlich dem Rassenwahn gegen
Juden, haben die Nazis in Deutschland und in den von ihnen eroberten Gebieten
auch gegen Sinti und Roma zunächst Inhaftierungen, Deportationen und
schließlich einen Genozid organisiert, dem allein in Deutschland ca. 25.000
deutsche Sinti und Roma zum Opfer fielen, europaweit gehen die Schätzungen bis
zu einer halben Million. Ausführlichere Informationen über die
Geschichte der Roma gebe ich wiederum bei den einzelnen Landesbeschreibungen.
Nach der politischen Wende 1989 und verstärkt
seit den Balkankriegen der 90er-Jahre sind Roma in den osteuropäischen Staaten
besonders durch Diskriminierungen und Ausgrenzungen belastet, so dass viele ihr
Heil in der Auswanderung nach Westen suchen. Eine Auflistung der Situation in den
osteuropäischen Staaten wurde in mehreren Ausgaben der Zeitschrift Pogrom von
der Gesellschaft für bedrohte Völker veröffentlicht.
Unter 3.103 Roma in Osteuropa werde ich weitere Angaben zu den verschiedenen
osteuropäischen Staaten machen.
4. Kultur
Kennzeichen der Lebensweise der Roma in
Mittel- und Westeuropa war in der Vergangenheit die Nicht-Sesshaftigkeit. Seit
dem 18. Jahrhundert, besonders unter Maria-Theresia in den habsburgischen
Landen, versuchte man Roma zur Sesshaftigkeit zu veranlassen, teilweise zu
zwingen. In der Wahrnehmung der Mehrheitsbevölkerungen galten und gelten sie
als Naturtalente des Musizierens und der darstellenden Kleinkunst. Auf
Besonderheiten in Deutschland, Österreich, Ost- und Westeuropa werde ich unter
den Rubriken 3.101 bis 3.104 eingehen.
5. Politische Situation und Perspektiven
In besonderen Posts behandel ich die spezifischen
Probleme der Sinti+Roma.Deutschland, der Roma+Sinti in Österreich und die
besonders schwierige Lage der Roma in Osteuropa. Wichtig für den Schutz der Roma in ganz Europa
sind das Rahmenabkommen des Europarats zum Schutz nationaler
Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- und
Minderheitensprachen, ebenfalls vom Europarat verabschiedet. (siehe
Literaturhinweise) Leider sind beide Dokumente noch nicht von allen
europäischen Staaten ratifiziert.
Da viele osteuropäische Staaten in die EU drängen, konnte
und kann bei den Beitrittsverhandlungen Druck auf diese ausgeübt werden, ihre
Politik gegenüber Minderheiten und somit auch gegenüber den Roma zu ändern. Die
Lage in den schon beigetretenen Staaten (wie z. B. Tschechien, Slowakei,
Rumänien, Bulgarien, Griechenland u. a.) zeigt jedoch, dass hier noch ein
langer Weg zu gehen ist. Unterstützt wird der Prozess durch die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
2005 haben die EU-Staaten eine Dekade
für die Integration der Roma ausgerufen. Ziel war es, in den EU-Staaten in
allen Bereichen die Roma juristisch den Nicht-Roma gleichzustellen.
Insbesondere soll die Diskriminierung
in Schulen, Krankenhäusern, Arztpraxen oder auf dem Arbeitsmarkt bekämpft
werden. Im Sommer 2011 verabschiedete die EU ein Papier, das die
„besondere Verantwortung“ der EU für die Sinti und Roma betonte: die so
genannte „Roma-Strategie“. Aber auch nach weiteren 10 Jahren ist die Umsetzung
der Minderheitenrechte weiterhin ein Problem. Zwar ist die Anerkennung der
Minderheitenrechte ein Beitrittskriterium für Staaten, die die
EU-Mitgliedschaft erlangen möchten. Aber die Praxis zeigt, dass ein bloßes Bekenntnis
zu den Rechten der Sinti und Roma auf dem Papier nicht ausreicht. Es muss ein
Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, das für eine gute Umsetzung der
Rechte notwendig wäre.
Deshalb hat die EU im Oktober 2020 einen neuen
Zahnjahresplan beschlossen, der die 2011 beschlossene „Roma-Strategie“ konsequenter umsetzen soll. Darin sind bis 2030 die
folgenden Mindestziele vorgesehen:
- Verringerung des Anteils der Roma, die
Diskriminierung erfahren, um mindestens die Hälfte;
- Verdoppelung des Anteils der Roma, die
Diskriminierungserfahrungen melden;
- Verringerung der zwischen den Roma und
der allgemeinen Bevölkerung klaffenden Armutslücke um mindestens die
Hälfte;
- Verringerung der Unterschiede bei der
Inanspruchnahme frühkindlicher Erziehung um mindestens die Hälfte;
- in Mitgliedstaaten mit einer
nennenswerten Roma-Bevölkerung Verringerung des Anteils der Roma-Kinder,
die segregierte Grundschulen besuchen, um mindestens die Hälfte;
- Verkleinerung der Beschäftigungslücke
sowie der genderspezifischen Beschäftigungslücke um mindestens die Hälfte;
- Verringerung der Unterschiede bei der
Lebenserwartung um mindestens die Hälfte;
- Verringerung der in Bezug auf
Wohnungsnot bestehenden Unterschiede um mindestens ein Drittel;
- Anhebung des Anteils der Roma mit Zugang
zu Leitungswasser auf mindestens 95 %.
Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf,
nationale Strategien bis September 2021 vorzulegen und alle zwei Jahre
über deren Umsetzung Bericht zu erstatten. Es bleibt zu hoffen, dass im
begonnenen Jahrzehnt tatsächlich konsequenter an diesen Zielen gearbeitet wird
und die EU nun auch Strafen und Sanktionen bei Verstößen umsetzt. Denn insbesondere in Osteuropa
und auf dem Balkan stehen durchgreifende Veränderungen noch aus.(siehe
3.103 Roma in Osteuropa) [12]
Dies hängt sicher auch damit
zusammen, dass man das Roma-Problem allein aus dem Gesichtspunkt der Minderheiten-Politik
nicht lösen kann. Hierauf macht der Journalist Norbert Mappes-Niediek mit
seinem Buch „Arme Roma, böse Zigeuner“
aufmerksam. Er weist mit sehr eindringlichen Worten – aufgrund eigener
Erfahrungen – darauf hin, dass die bisherigen Methoden allesamt zum Scheitern
verurteilt sind, weil man davon ausgeht, die Roma seien nur arm, weil man sie
als Volk verachtet und ausgrenzt. Wenn man diese Mehrheitshaltung ändere und
den Roma gleiche Chancen einräume, würde sich das Problem schon von selbst
lösen. Mappes-Niediek schreibt u. a. die folgenden, sehr bedenkenswerten Sätze:
„Und
schaut man sich die Vorbehalte gegenüber Roma genauer an, so stellt man fest:
Es sind Ressentiments, wie man sie auf der ganzen Welt gegenüber Armen pflegt –
dass sie gar nicht arbeiten wollen, dass sie alles verdiente Geld immer auf den
Kopf hauen, statt zu sparen, dass sie so viele Kinder bekommen, um das
Kindergeld zu kassieren, dass sie unehrlich sind und stehlen, dass sie sich nicht
richtig sauber halten. Alles das, mit exakt denselben Worten, erzählen sich
auch Brasilianer über die Bewohner der Favelas und nicht wenige weiße
Amerikaner über ihre schwarzen Mitbürger. Es ist eine einfache Umkehr von Ursache
und Wirkung: Die Folgen der Armut werden als Grund für die Armut
missinterpretiert. Mit
anderen Worten: Sie, die Armut, ist der Dreh- und Angelpunkt des Problems. Arm
sind die Roma nicht wegen ihrer besonderen Kultur und auch nicht wegen des
Rassismus, sondern aus exakt demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in
Ost- und Südosteuropa arm sind: Es fehlt an bezahlter Arbeit. Die
Beschäftigungsrate ist überall in der Region in den letzten zwanzig Jahren bis
auf etwa die Hälfte zurückgegangen. Am stärksten war der Schwund bei den
minderqualifizierten, den typischen Roma-Jobs. Nicht Ausgrenzung - wie im
Westen - war in Osteuropa historisch das Problem der Roma, sondern ihre
niedrige soziale Stellung. Fragt man die Menschen in den Elendssiedlungen
Ungarns, Rumäniens oder Serbiens nach ihrem Leben, so erfährt man, dass so gut
wie alle jenseits der vierzig früher einen festen Job hatten. Mittlerweile
träumen sie nicht einmal mehr davon. …Auch in den Slums sind viele erst
gelandet, nachdem sie für ihre Wohnungen die Miete nicht mehr bezahlen konnten.
…Weil das so ist, hilft Minderheitenpolitik auch nicht gegen die Armut. Die
Roma haben nichts, das sie »autonom« unter einander verteilen könnten. Es gibt
viele familiäre und örtliche Gemeinschaften und auch ein vages
Gemeinschaftsgefühl von Roma über die Grenzen hinweg, aber es gibt keine
organisierte Roma-Gesellschaft und auch keinen Grund, eine solche zu
entwickeln. Trotzdem wird – teils bewusst, teils unbewusst – fleißig daran
gearbeitet – mit dem Versuch, eine »Roma-Elite« zu schaffen, mit unzähligen
Projekten, die von Stiftungen und internationalen Organisationen gefördert
werden. Hervorgebracht haben sie eine »Gypsy industry« aus
Nichtregierungsorganisationen, die oft nur aus ihrem Vorsitzenden und dessen
Bankkonto bestehen und deren Know-how sich im Schreiben von Projektanträgen
erschöpft. Den
Roma in ihren Slums nützt das Treiben höchstens einmal punktuell; ihre soziale
Lage hat sich seit dem Aufblühen der Projektkultur um die Jahrtausendwende eher
noch verschlechtert. Wenn Fonds mehr oder weniger ausdrücklich nur für Roma
bereitgestellt werden, schafft das in den verelendeten Regionen des Balkan
überdies noch Neid und böses Blut.
…Zehntausende Gastarbeiter-Roma aus
Jugoslawien leben schon seit den 1960er und 1970er Jahren unerkannt und
unauffällig in Mittel- oder Westeuropa. Dass sie sich nicht zu erkennen geben,
ist ein trauriges Zeichen dafür, dass es noch immer viele Vorurteile gibt. Dass sie sich
aber so mühelos verstecken können, ist der Beweis, dass ihre Kultur eben nicht
das Problem ist.
Als »Roma-Problem« lassen sich die
Probleme der (osteuropäischen) Roma und die Probleme mit ihnen nicht lösen.
Wenn etwas besser werden soll, müssen die Probleme zunächst bei ihrem richtigen
Namen genannt werden. Sie heißen Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere oder
unterfinanziertes Gesundheitswesen. Sie zu lösen ist teurer und weniger bequem
als die Gründung und Finanzierung eines weiteren Roma-Beirats. Westeuropa
braucht eine Modernisierung von Bildungswesen und Verwaltung, Osteuropa
zusätzlich ein Infrastrukturprogramm, nicht nur wegen der Roma. Aber wenn wir
uns den nötigen Reformen nicht stellen, bleibt auch die große europäische Strategie zur
Emanzipation der Roma bloß billige Heuchelei.“
Dem
ist nicht viel hinzuzufügen. Ich möchte das Buch ausdrücklich empfehlen, zumal
es auch viele weitere Hinweise zum Verständnis der Situation der Roma in Europa
gibt.
Literatur-Hinweise
Neben den in den Fußnoten bereits angeführten
Dokumenten verweise ich noch auf folgende Unterlagen, die ich z. T. bei der Abfassung dieses Posts als
Unterlage benutzt habe:
- Klaus Ludwig: "Ethnische Minderheiten in
Europa" Beck'sche Reihe 1115
- Das Parlament v. 20. 8. 1999, S. 16
"Unter allen Fremden sind Sinti und Roma die Fremdesten"
- pogrom 199 - März/April 1999
"Anerkennung als Nation oder Minderheitenrechte"
- Salzburger Nachrichten v. 8. 4. 2012
"Roma-Tag" erinnert an größte Minderheit Europas
- Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 22/23 vom
30. 5. 2011 "Sinti und Roma"
http://romaniprojekt.uni-graz.at//romani-introduction.de.html
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 22/23/2011 Sinti und Roma, darin Herbert
Heuss „Roma und Minderheitenrechte in der EU. Anspruch und Wirklichkeit“ S.23
http://romani.uni-graz.at/rombase/
pogrom Nr. 225 - 3/2004, pogrom
Nr. 254 - 3/2009 u. a.
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