2.192 Flandern, Flamen, Belgien



1. Lage und Zahlen


Quer durch den 1830 entstandenen Staat Belgien verläuft die germanisch-romanische Sprachgrenze. Im Süden leben die französischsprachigen Wallonen und im Norden die niederländisch-sprachigen Flamen. Ganz im Westen gibt es noch die kleine deutsche Volksgruppe. Flandern ist heute ein Teilstaat im föderalistisch gegliederten Belgien. Diesen Status haben sich die Flamen erst nach und nach erkämpft (siehe hierzu weiter unter Geschichte). 

Belgien besteht nach den verschiedenen Staatsreformen (s. u.) aus 3 Regionen (Flandern, Wallonien und Brüssel) und 3 Gemeinschaften (Flämische, Französische und Deutschsprachige Gemeinschaft). Zur Flämischen Region gehören die 5 nördlichen Provinzen Belgiens (Westflandern,  Ostflandern, Antwerpen, Limburg und Vlaams-Brabant). Die Funktionen der Flämischen Region und der Flämischen (Niederländischen Sprach-) Gemeinschaft werden von einem Parlament  und einer Regierung ausgeübt, die ihren Sitz in Brüssel hat. Brüssel ist eine eigenständige zweisprachige Region und wird vom flämischen Teilstaat umschlossen. In diesem Teilstaat leben (Stand 1. 1. 2010) 6.252.000 Einwohner.[1]

Quelle: http://neon.niederlandistik.fuberlin.de/static/nedling/taalgeschiedenis/belgie.nl.

2. Sprache

Offizielle Amtsprache der Flämischen Region ist Niederländisch (ABN). Über die niederländische Hochsprache und ihre Definition habe ich bereits unter 2.19  Niederländer, Flamen, NiederländischeSprache berichtet. Nach langem Ringen haben die Flamen 1962 erreicht, dass in Belgien Sprachgrenzen festgelegt wurden. Seitdem gilt in Belgien (ähnlich der Schweiz) das Territorial-Prinzip, was bedeutet, in dem Gebiet, das als Flämisches Sprachgebiet festgelegt wurde, gilt ausschließlich Niederländisch als Amtssprache. Jeder Bewohner im flämischen Sprachgebiet kann also  mit Behörden nur in Niederländisch / Flämisch verkehren, er kann seine Kinder nur in Schulen schicken, die als Unterrichtssprache Niederländisch haben (außer Privatschulen oder im Fremdsprachen-Unterricht). Diese strenge Auslegung ist den Flamen wichtig, weil sie befürchten, durch Zuzug von Anderssprachigen (vor allem aus Wallonien und Brüssel) könnten die mühsam für die Flamen erreichten Errungenschaften wieder aufgeweicht werden. Aus dem gleichen  Grund weigert sich die Flämische Gemeinschaft, das von der Zentralregierung unterzeichnete Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten zu ratifizieren, weil man sonst fürchtet, man müsse den in Flandern lebenden Wallonen besondere Minderheitenrechte einräumen. Die strenge Handhabung der Einsprachigkeit ist für Außenstehende oft befremdlich und kann wirklich nur aufgrund der leidvollen flämischen Geschichte (s. u.) verstanden werden. Beispielsweise darf ein flämischer Beamter einem französichsprachigen Belgier nur auf niederländisch Auskunft erteilen, obwohl fast alle Flamen aufgrund der belgischen Geschichte gute Französischkenntnisse haben (in der Schule wird ab dem 10. Lebensjahr Französich als Fremdsprache unterrichtet). Der deutsche Autofahrer, der z. B. Belgien nur als Transitland benutzt um nach Nordfrankreich zu kommen, wird vergeblich nach Hinweisschildern „Lille“ Ausschau halten, vielmehr wird er sich an der niederländischen Bezeichnung „Rijsel“ orientieren müssen, da das heutige fränzösische Lille in seiner wechselvollen Geschichte in früherer Zeit zur Grafschaft Flandern und zum flämischen Sprachgebiet gehörte.

Die Hauptstadt Belgiens Brüssel ist eine eigene Region, die umgeben von flämischem Territorium eine Insellage hat und offiziell zweisprachig ist – (französisch/niederländisch). Die Zweisprachigkeit gilt auch als Vorschrift für alle Behörden und amtliche Hinweise, z. B. bei Straßenschildern. Allerdings ist nur ein kleiner Teil der Brüsseler Einwohner flämisch-sprachig. Eine genaue Angabe über die Zahl der französisch- oder flämisch-sprachigen Belgier gibt es allerdings wegen des Territorialprinzips nicht. Besondere Bestimmungen gelten für eine Anzahl von Gemeinden entlang der Sprachgrenze, in denen eine Minderheit von mindestens 30% der anderen Sprachgruppe lebt. Eine ähnliche Regelung gilt  für den sogenannten Vlaamsen Rand, das sind 6 flämische Gemeinden, die an die Hauptstadtregion Brüssel angrenzen und viele französischsprachige Einwohner haben.
Die Flämische Gemeinschaft ist ebenso wie die Französische Gemeinschaft auch für Brüssel zuständig und hat sich bewusst für Brüssel als ihre Hauptstadt (für die flämische Region und Gemeinschaft) entschieden. Dem Parlament der Flämischen Gemeinschaft gehören 6 direkt gewählte Mitglieder aus Brüssel an, die jedoch nur in Angelegenheiten der Flämischen Gemeinschaft abstimmen dürfen, nicht in Angelegenheiten der Flämischen Region.

Eine ausführlich Schilderung der flämischen Sprachsituation unter besonderer Berücksichtigung des Brüsseler Umlands enthält die mit Unterstützung der flämischen Behörden herausgegebene Druckschrift „Living in Translation“  - siehe www.livingintranslation.be. Diese Broschüre gibt auch Antworten auf viele weitere Fragen, die für einen Außenstehenden schwer verständlich sind, insbesondere auch für die vielen Ausländer, die bei den europäischen Behörden in Brüssel arbeiten.

Besonderheiten des Flämischen zur niederländischen Hochsprache

Aufgrund der geschichtlichen Entwicklung (s. u. Geschichte) gibt es im Niederländischen Sprachgebiet Unterschiede zwischen Nord (NL) und Süd (B). Sie sind zwar nicht so bedeutend, dass keine Verständigung möglich wäre, aber sie sind unverkennbar vorhanden. Jan Goossens[2]  vergleicht die Situation in Flandern mit der ebenfalls Jahrhunderte langen Trennung der deutschsprachigen Schweiz vom Kerngebiet der deutschen Hochsprache. In Flandern ist die Niederländische Hochsprache nicht völlig integriert, obwohl es in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gibt, wobei das Fernsehen, die offizielle Politik in Flandern und die Bemühungen des Sprachvereins (Vereniging voor beschaafde Omgangstaal) eine wichtige Rolle spielen.
Dennoch wird ein Niederländer einen Flamen schnell nach ein paar Worten als solchen erkennen, selbst wenn dieser bewusst versucht, typisch flämische Ausdrücke zu vermeiden.[3] Grund dafür ist eine andere Aussprache bestimmter Laute, eine andere Satzmelodie und ein anderer Wortschatz mit einigen tausend Wörtern, z. B. aus dem Bereich der unterschiedlichen politischen und sozialen Strukturen.

3. Geschichte[4]

Mittelalter

Die heutigen Niederlande und Belgien gehörten – territorial aufgeteilt in verschiedene Grafschaften und Herzogtümer – zum Römischen Reich deutscher Nation. Ab dem 13. Jahrhundert gibt es bereits amtliche Texte in niederländischer Sprache, jedoch hat das Französische eine wichtige Position.

Im 13. Jahrhundert wurde die Grafschaft Flandern vom französischen König besetzt.

11. 7. 1302

Die Flamen erheben sich in der Grafschaft Flandern gegen den französischen König (Philipp den Schönen) und den französischen Adel und besiegen die Franzosen in der sogenannten Guldensporenslag (goldene Sporenschlacht – weil auf dem Schlachtfeld die vergoldeten Sporen der gefallenen französischen Reiter gefunden wurden). Dieser Tag ist für die Identität der Flamen bis heute bedeutend. Deshalb ist der 11. Juli der offizielle Feiertag der Flämischen Region.

14. – 16. Jahrhundert

Die gesamten heutigen Niederlande und Belgien gehören zum Burgundischen Reich. Der französichsprachige Herzog hat seinen Sitz in Brüssel. Französisch ist wichtige Prestigesprache des Adels. Aufgrund der Mittellage kommt es zu ständigen Auseinandersetzungen und Kriegen. In deren Folge und aufgrund der Heirat der letzten burgundischen Erbtochter Maria mit dem Habsburger Maximilian I kommen die Niederlande (einschließlich des heutigen Belgien) unter die Herrschaft der spanischen Habsburger. Sein Nachfolger Philipp II verlegt seinen Regierungssitz nach Spanien, wodurch die Niederlande zu einem Nebengebiet werden.

1566 / 1568

Inzwischen konnte sich im Bereich Niedelande / Flandern die Reformation in Calvinistischer Ausprägung ausbreiten. 1566 erfolgte ein Bildersturm der Calvinisten in den Kirchen, 1568 begann der 80jährige Krieg gegen die Spanier. 1585 erobern die Spanier Antwerpen und alle südlich davon gelegenen Gebiete. Die Folge ist die Migration vor allem der bürgerlichen Mittelschicht von Süd nach Nord.

1648 / 1714

Im westfälischen Frieden wird die Republik der 7 vereinigten Niederlande anerkannt, die gleichzeitig aus dem deutschen Reich ausscheiden. Die Grenze nach Süden entspricht in etwa den heutigen Staatsgrenzen Niederlande/ Belgien (ausgenommen der Limburger Bereich). Der Süden – also im wesentlichen das heutige Belgien – verbleibt bei den spanischen Habsburgern. Nach dem spanischen Erbfolgekrieg (1701 – 1714) geht der wesentliche Bereich des heutigen Belgien an die österreichischen Habsburger. Unter den Habsburgern beider Linien „verfranste“ das Land. Die Österreicher bestanden zwar nicht auf Französisch, aber die Oberschicht benutzte die in ganz Europa bevorzugte Prestigesprache, die sich auch in den Schulen und der Presse durchsetzte. Niederländisch / Flämisch lebte nur noch als Dialekt vor allem in den ländlichen Gebieten des Nordens. Allerdings predigte auch die katholische Geistlichkeit in niederländischer Sprache.

1794 - 1815

Nach der Eroberung Flanderns durch französische Revolutionstruppen wurden alle Einwohner der annektierten Gebiete zu französichen Bürgern, denen nach dem Grundsatz 'une République, un peuple, une langue' (ein Staat, ein Volk, eine Sprache) Französisch als einzige in der Öffentlichkeit erlaubte Sprache vorgeschrieben wurde. Auch in der Rechtsprechung, im Unterricht und in offiziellen Dokumenten durfte ausschließlich Französisch benutzt werden.

1815 – 1830

Durch den Wiener Kongress kam es auf dem Gebiet der heutigen Be-Ne-Lux-Staaten zu einer kurzlebigen Epoche der „Vereinigten Niederlande“ unter dem niederländischen König Wilhelm I. Dieser versuchte Niederländisch nach dem gleichen Prinzip wie seine französichen Vorgänger als alleinige Staatssprache auch im Süden durchzusetzen, in Wallonien wollte er zumindest eine Zweisprachigkeit Französich-Niederländisch erreichen. Diese kurze Epoche war für Flandern sehr wichtig, es wäre sonst wohl vollständig „verfranst“.

1830 1831

Die Politik Wilhelms führte im Süden und in Brüssel allerdings zu wachsender Unzufriedenheit und so kam es 1830 zum Aufstand gegen die niederländische Herrschaft. 1831 beschließt eine Konferenz der europäischen Großmächte in Londen die Anerkennung des neuen Staates Belgien und seine Neutralität. König von Belgien wird Leopold I aus dem Hause Sachsen-Coburg. 1839 schließt Belgien Frieden mit den nördlichen Niederlanden und einigt sich auf die heutigen Grenzen.

1834 –1914

Angeführt von katholischen Geistlichen, die einen Verlust der traditionellen katholischen Gesellschaft befürchteten, entstand zwischen 1834 und 1840 die Vlaamse Beweging (Flämische Bewegung). In den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts erreichte diese Bewegung die Verabschiedung erster Gesetze zum Gebrauch der flämischen Sprache. 1873 das Coremans-Gesetz, das einem Angeklagten vor Gericht den Gebrauch seiner Muttersprache garantierte und das de Vigne-Coremans-Gesetz, das die teilweise Einführung des Niederländischen  im Unterricht, der Administration und Gesetzgebung in den flämischen Provinzen verfügte. In der Folgezeit wurden Münzen (1886), Banknoten (1888), Briefmarken (1891) und auch das Staatsblad (1895, "Belgisches Staatsblatt") zweisprachig. 1898 wurde ein Gleichberechtigungsgesetz verabscchiedet, das eine gesetzliche Akzeptanz des Niederländischen neben Französich festschrieb. Aufgrund dieser Entwicklung schrieb 1912 der Politiker Jules Destrèe in einem offenen Brief an den König: „Sire, Vous régnez sur deux peuples. Il y a en Belgique des Wallons et des Flamands ; il n’y a pas de Belges ! (Sire, Sie regieren zwei Völker. In Belgien gibt es Wallonen und Flamen; es gibt keine Belgier!)

1914-1918 – 1. Weltkrieg

Im 1. Weltkrieg wurde das neutrale Belgien von deutschen Truppen besetzt. In dieser Zeit versuchten die Deutschen aktiv die Flämische Bewegung zu unterstützen und damit für sich zu gewinnen. Ein Teil der Bewegung kollaborierte deshalb mit den Deutschen und erreichte z. B. die Niederlandisierung der Universität Gent.


1919-1938


Im Jahr 1929 kam es zum historischen Compromis des Belges zwischen flämischen und wallonischen Sozialisten, wodurch der Weg zu zwei einsprachigen, kulturell autonomen Bereichen in Belgien frei gemacht wurde.

1932 folgte das Gesetz zum Sprachgebrauch in Verwaltungsangelegenheiten, 1935 in Rechtsangelegenheiten und 1938 in der Armee. Damit wurde festgelegt, dass in den flämischen und wallonischen Sprachgebieten die Umgangssprache auch zur offiziellen Sprache wurde.

1939 -1951

Ab 1936 verfolgte Belgien erneut eine Neutralitätspolitik, wurde aber wie im  Ersten Weltkrieg am 10. Mai 1940 von deutschen Truppen besetzt. Nach 18 Tagen kapitulierte König Leopold II. (1934 - 1951) vor den Deutschen. Viele Flamen kooperierten wiederum mit den Deutschen. Diese Kapitulation durch den König  beherrschte nach dem Krieg die belgische Politik und wurde zur  „Königsfrage“. Im Jahre 1951 verzichtete schließlich Leopold II. auf den Thron. Sein Nachfolger, sein Sohn Baudouin I., regierte bis zu seinem Tode im Jahre 1993.


1950 – 1969

In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts nahmen die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen wieder zu. Ein wichtiger Grund war die veränderte wirtschaftliche Entwicklung in den beiden Landesteilen, die Schließung von Minen und Stahlwerken im Süden und ein wirtschaftlich aufblühendes Flandern.

In den Jahren 1962-1963 wurde in Sprachgesetzen endgültig die verschiedenen Sprachgebiete festgelegt (Niederländisch, französisch und deutsch sowie das zweisprachige Brüssel). Das Territorialprinzip wurde endgültig bestätigt, die Sprache gehörte zu einem Gebiet, wer dort lebte musste sich anpassen. Für den Grenzbereich wurden Ausnahmen für 25 "Faciliteitengemeinden" und   später für weitere 6 Gemeinden am Brüsseler Rand festgelegt. (s. o.)


1970-1993 – die vier Staatsreformen

In den 70er-Jahren spalteten sich alle belgischen Parteien in eine niederländisch- und französischsprachige autonome Partei auf. Hinzu kam der neue extrem flämisch-national agierende Vlaams Blok (später Vlaams Belang).

Die Parteien einigten sich 1970 mit der 1. Verfassungsreform auf die Errichtung von drei Kulturgemeinschaften, deren Zuständigkeiten zunächst jedoch sehr begrenzt waren. Auch wurde in diesem Jahr die Basis für die Schaffung von 3 Regionen ("gewesten")  gelegt. Mit einem Dekret vom 10. 12. 1973 wurde festgelegt, dass die offizielle Sprache Flanderns konsequent Niederländisch genannt wird und nicht Flämisch, womit offiziell Flandern als Teil des niederländischen Sprachgebiets festgelegt wurde. Die zweite Staatsreform machte 1980 die Kulturgemeinschaften zu Gemeinschaften ("gemeenschappen")  und räumte ihnen neben kulturellen Angelegenheiten auch die Zuständigkeit z. B. für das Gesundheitswesen und Soziale Dienste ein. Gleichzeitig wurden die bisher vorläufigen Regionen ("gewesten")  aufgewertet und erhielten Zuständigkeiten vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Für die Region Brüssel konnte zunächst aber keine Einigung erzielen. Jede Region und jede Gemeinschaft haben einen Rat und eine Regierung, wobei in Flandern von Anfang an Rat und Regierung von Gemeinschaft und Region zusammengelegt wurden.


Mit der 3. Staatsreform (1988-1989) bekommt auch Brüssel als Region Brüssel-Hauptstadt eigene Institutionen und Kompetenzen. Die Räte werden in Parlament umbenannt. Gleichzeitig erhalten die Gemeinschaften mehr Befugnisse (z. B. die Zuständigkeit für das Unterrichtswesen) und auch die Zuständigkeit der Regionen wird erweitert (Verkehrswesen, öffentliche Arbeiten).



Schließlich wird mit der 4. Staatsreform 1993 der 1970 begonnene Prozess abgeschlossen und aus Belgien wird ein vollwertiger Föderalstaat. Gemeinschaften und Regionen bekommen ihre Zuständigkeiten zugewiesen und der erste Artikel der belgischen Verfassung lautet nun: Belgien ist ein aus Gemeinschaften und den Regionen bestehender Föderalstaat. Die bisherige Provinz Brabant wurde aufgeteilt in Flämisch-Brabant und Wallonisch-Brabant.


Seit der Staatsreform des Jahres 1993 können die flämischen Institutionen sogar Abkommen mit Partnern im Ausland schließen, soweit sie innerhalb Belgiens für die entsprechenden Bereiche zuständig sind (z. B. Kultur, Wirtschaft). Flandern hat sogar im Ausland eigene diplomatische Vertreter.

1994 bis heute – die 5. und 6. Staatsreform

Das Lambermontabkommen leitet 2001 die 5. Staatsreform ein. Dadurch werden weitere Kompetenzen auf die Regionen und Gemeinschaften übertragen (insbesondere Zuständigkeiten für die Finanzen, die Kommunen und Provinzen). Die 6. Staatsreform vom Dezember 2011 trägt den Titel „Ein effektiverer Föderalstaat und mehr Autonomie für die Teilstaaten”. Außerdem werden vor allem Regelungen für die Gerichtsbarkeit in Brüssel (separater französischer und niederländischer Staatsanwalt) und die Aufteilung der Wahlbezirke getroffen.

4. Politische Situation der Gegenwart / Perspektiven

Wenn man bei Google die Suchworte „Zerfall Belgiens“ eingibt, so erhält man Hinweise auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die ein nahes Ende des belgischen Staates befürchten oder voraussehen. Es gibt nur wenige Faktoren, die diesen heterogenen Staat zusammenhalten: der König, die Hauptstadtregion Brüssel mit ihren europäischen Institutionen und die Furcht vieler Wallonen, dass der wallonische Teilstaat bei einem Ausbleiben der Transferzahlungen aus dem reicheren Flandern bankrott wäre. Zur Zeit vielleicht auch noch die sehr erfolgreiche belgische Fußball-Nationalmannschaft.
Tatsächlich sind die Flamen in den letzten Jahrzehnten immer selbstbewusster geworden und der Ruf nach Unabhängigkeit ist nicht zu überhören. Der Staat Belgien  ist im politischen Bereich so gespalten, dass alle traditionellen Parteien (Christdemokraten, Sozialisten, Liberale)  aufgespalten sind in eigenständige flämische und wallonische Parteien, wobei z. B. die Christdemokraten Flanderns den Liberalen näher stehen als ihrer wallonischen Schwesterpartei. Den Gegensatz verschärfte seit Jahren die rechtsextreme Partei „Vlaamse Belang“, die sich ganz entschieden für ein eigenständiges Flandern einsetzte  und darüberhinaus fremdenfeindlich agierte. Bei der Parlamentswahl im Jahre 2010 verlor diese Partei zwar an Stimmen, aber gleichzeitig wurde die flämisch-nationale NVA (Neue Flämische Allianz) auf Anhieb und vor allem auf Kosten der flämischen Christdemokraten stärkste Fraktion im belgischen Bundes-Parlament.

Die NVA unter ihrem populären Vorsitzenden Bart de Wever konnte auch bei den Kommunalwahlen 2012 deutliche Gewinne verzeichnen und de Wewer verkündete daraufhin: „Die Flamen wollen Veränderung.“ Und wenn es nach de Wever geht, heißt das: die Unabhängigkeit des niederländischsprachigen Nordens rückt näher.[5]
Nicht zuletzt aufgrund des Wahlerfolges der NVA dauerte die Regierungsbildung in Belgien nach der Wahl 2010 ganze 541 Tage (neuer europäischer Rekord) bis es dem wallonischen Sozialisten di Rupo gelang, ein Kabinett aus flämischen und wallonischen Christdemokraten, Liberalen und Sozialisten zu bilden.[6]
Dies zeigt, dass die Belgier allen Krisen zum Trotz zu schrittweisen pragmatischen Lösungen fähig sind, die sich auf eine lange Tradition friedlicher Kompromisssuche stützen.[7]
Bei den Wahlen zum belgischen Parlament im Mai 2014 konnte die NVA nochmals um einige Prozentpunkte zulegen und wurde stärkste Partei, während  die noch extremere   „Vlaams Belang“ Stimmen verlor. Das neue Parlament hat nun folgende Sitzverteilung:


Die Regierungsbildung hat sich wieder schwierig gestaltet und lange hingeszogen. Schließlich waren aber auch die flämischen Nationalisten (NVA) unter Bart de Wever bereit in eine neue Regierung einzutreten, die gemeinsam mit den flämischen Christdemokraten (CD&V), den flämischen Liberalen (Open Vld) und den frankophonen Liberalen (MR) gebildet wurde. Als Ministerpräsident wurde der frankophone Liberale Charles Michel am 11. 10. 2014 vor König Philippe vereidigt. Bart de Wever wollte nicht Premier Belgiens werden, zeigte aber, dass er kompromissfähig ist und nun hinsichtlich einer Abspaltung Flanderns moderatere Töne anschlägt. Ob die moderaten Kräfte Belgiens weiterhin bei der Linie bleiben, für ein starkes Flandern in einem  föderalisierten Belgien einzustehen, bleibt zu hoffen, ist aber offen. Schon 1988 titelte Die Zeit: "Statt Scheidung getrennte Betten".[8] Schließlich waren alle Belgier und vor allem die Flamen stets gute Europäer, die für ein Europa der Vielfalt gekämpft haben. Bei einem weiteren Zusammenwachsen Europas werden auch die Flamen mit und in einem Bundesstaat Flandern gut leben können. Es bleibt aber spannend – nicht nur für die Belgier, denn in vielen anderen Teilen Europas (Katalonien, Schottland u. a.) wird man die Entwicklung aufmerksam verfolgen.






[2] Jan Goossens „Was ist Deutsch .- und wie verhält es sich zum Niederländischen“ Bonn 5. Auflage 1985

[3] http://neon.niederlandistik.fu-berlin.de/ :Das Niederländische in Flandern
[4] Bei der Zusammenstellung habe ich u. a. folgende Quellen benutzt: http://neon.niederlandistik.fu-berlin.de/  -  http://de.wikipedia.org/wiki/Burgund und http://www.belgium.be/de/ueber_belgien/land/  -  https://www.ned.univie.ac.at/node/12688
[7] https://www.ned.univie.ac.at/node/12688
[8] http://www.dw.de/neue-belgische-regierung-vereidigt/a-17988377  -  Die Zeit vom 14.10.1988

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