1.21 Volk, Nation, Staat – Definition der Begriffe

Übersicht
1. Vorbemerkung
2. Was ist ein Volk?
    a) Der Begriff "Volk"
    b) Wesentliches Merkmal eines Volkes – seine Sprache
    c) Ausnahmen von der Regel „Sprache“
    d) Andere prägende Einflüsse
    e) Der Begriff „Volk“ in verschiedenen Sprachräumen
3. Was ist eine Nation?
    a) Der westliche Begriff der Nation
    b) Der Mittel- und Osteuropäische Begriff der Nation
4. Was ist der Staat?


1. Vorbemerkung

Von Blaise Pascal ( französischer Mathematiker,Physiker und Philosoph1623 – 1662) soll die Forderung stammen: „Definiert die Begriffe!“.  Eine Definition von Worten und Begriffen ist sicher in vielen Bereichen wichtig und notwendig, damit eine Verständigung oder auch Diskussion zwischen Menschen möglich ist, sonst redet man – wie so oft – aneinander vorbei. Neben der Religion gibt es wohl keinen weiteren Bereich, wo mit den gleichen Worten völlig unterschiedliche Vorstellungen verbunden sind, wie bei den deutschen Begriffen „Volk“, „Nation und „Staat“. Ich zitiere: „Selbst im Bewusstsein, dass Begriffe wie „Nation“ und „Identität“ sehr verschieden definiert sein können, wird von vielen….so argumentiert, als ob es sich dabei um eindeutige Größen handle, die in der Wirklichkeit ihre Entsprechung haben müssten. Besonders heikel wird es dann, wenn an sich eine gute Sache vertreten wird, etwa beim Eintreten… für bedrohte Minderheiten“[1]
Zu den drei Oberbegriffen kommt noch eine Fülle von hieraus abgeleiteten oder verwandten Begriffen wie z. B.: Nationalstaat, Nationalitätenstaat, Staatsnation, Nationalität, Volksgruppe, nationale Minderheit, Ethnie, Kulturnation, Sprachgemeinschaft, Kulturgemeinschaft, Stamm, Rasse, Vaterland, Muttersprache, Identität u. v. a. und nicht zu vergessen der Nationalismus, der große Zerstörer eines friedlichen Zusammenlebens verschiedener Völker und Volksgruppen.

Nach Studium einer sehr umfangreichen und zum Teil kontroversen Literatur zu diesem Thema, möchte ich den Versuch unternehmen, die oft benutzten Begriffe Volk, Nation und Staat zu definieren. Dabei bin ich mir bewusst, dass es auf diesem Gebiet keine absolute Wahrheit gibt. Schon der Klassiker der Literatur zu diesem Thema, Friedrich Meinecke, beginnt sein Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat“, mit der Feststellung: „…dass es keine Formel gibt, welche allgemeingültig die Merkmale dafür angibt“[2] 

Mein Anliegen ist es vielmehr, zu einem bewußten Gebrauch dieser Begriffe anzuregen und zu versuchen, den dahinter stehenden Inhalt zu erläutern. Besondere Aspekte im Hinblick auf das deutsche Volk und die deutsche Nation werden unter 2.01a Das deutsche Volk in Europa und 2.01b Die deutsche Sprache behandelt.

2. Was ist ein Volk?


a) Der Begriff "Volk"


Durch den Nationalsozialismus  im besonderen, aber auch andere totalitäre Bewegungen (Faschismus, Kommunismus besonders in seiner Ausprägung als Stalinismus), ist der Begriff Volk negativ belastet. Deshalb ist es gut zu wissen, dass ein wissenschaftliches Basiswerk , das sich erstmals systematisch mit der Lehre vom Volk beschäftigt, und seine Eigenständigkeit gegenüber Staat, Religion, Stand, Klasse und anderen sozialen Faktoren herausstellt, bereits 1932 unter dem Titel "Das eigenständige Volk" erschienen ist.[3]
Im Geleitwort zur Neuausgabe 1965 schreibt der Verfasser, Prof. Dr. Max Hildebert Boehm, dass durch die Ungunst der Geburtsstunde dieses Buch eigentümlich „unzeitgemäß“ erschien – vielleicht verspätet oder auch verfrüht. Er stellt fest, dass durch den Zusammenbruch von 1945 ein besonnenes Nachdenken über Volk und Volkstum zunächst praktisch aussetzte. Weite Kreise der öffentlichen Meinung hielten Begriffe und Vokabeln wie Volk und Volkstum für originär nationalsozialistisch  und haben sie deshalb ungeprüft global verworfen. Dabei hat Boehm bereits in „unzeitgemäßer“ Situation eine klare Absage  an alle herausgearbeitet, die „Volk“ in irgernd einer Weise mit Rassismus und Nationalismus in Zusammenhang bringen wollten. Dazu stellte er u. a. fest, dass ein Volk allein aufgrund der verschiedenen Wanderungsbewegungen, des Handels und der Kriege in Europa niemals auf  eine gemeinsame Abstammung oder gar Blutsverwandschaft  gegründet sein kann[4]

 

b) Wesentliches Merkmal eines Volkes – seine Sprache

Im Kapitel 1.231 Sprachenals Identitätsmerkmal gehe ich ausführlich auf das Identität stiftende Merkmal der Sprache ein. Zweifellos ist die gemeinsame (Hoch-)Sprache bei den meisten Völkern das wichtigste Kennzeichen der Zugehörigkeit zu einem Volk bzw. einer Kultur-Nation oder Sprach- und Kulturgemeinschaft.
 

c) Ausnahmen von der Regel "Sprache"


Obwohl die Sprache einen so wichtigen Einfluss auf die Zusammengehörigkeit eines Volkes spielt,  müssen wir feststellen,  dass die Sprache nicht generell das  Hauptkennzeichen für die Zugehörigkeit zu einem Volk ist. Trotz gemeinsamer Sprache wird ein Ire entschieden protestieren, wenn man ihn als Engländer oder als Angehöriger des englischen Volkes bezeichnet, in gleicher Weise die meisten  Schotten oder Waliser. Umgekehrt legen protestantische Nordiren Wert auf ihre enge Bindung an England bzw. Großbritanien. Im ehemaligen Jugoslawien hatte man sogar die gemeinsame Sprache Serbokroatisch für Serben, Kroaten, Montenegriner und Bosnier geschaffen und tatsächlich bestehen zwischen diesen Völkern keinerlei Verständigungsprobleme. Dennoch hat die gemeinsame Sprache nicht dazu beigetragen, ein einheitliches Volksbewußtsein zu schaffen. Die beiden Beispiele – Großbritanien und Jugoslawien – zeigen, dass andere Faktoren, in diesen Fällen die Religion und eine jahrhundertelange getrennte Geschichte, prägendere Faktoren sein können. 

Darüberhinaus gibt es das Problem des sogenannten „schwebenden Volkstums“. Wir treffen dieses Phänomen besonders in Grenzregionen an, z. B. in Oberschlesien, dem Elsass oder in Süd-Kärnten, wo die Bevölkerung zwischen den Kulturen hin- und hergerissen wird und ein staatlicher Druck hin zur Mehrheitssprache und Kultur dazu führen kann, dass die Entwicklung hin zur Staatssprache kaum aufzuhalten ist. Allerdings gibt es auch gerade in diesen Regionen positive Gegenbeispiele, die zeigen, dass man sich seiner besonderen Situation bewußt wird und dafür eintritt, dass die angestammte Sprache und Kultur nicht verlorengeht. Das Problem des schwebenden Volkstums gibt es darüberhinaus vor allem bei Migranten und Asylanten, die zwar ein Interesse daran haben, die Sprache ihrer neuen Heimat (?) zu erlernen, aber ihre Identität und Bindung an die Herkunftskultur nicht aufgeben wollen. Besonders die nachfolgenden Generationen dieser Zuwanderer sind dann oft in einem Gewissenskonflikt, der m. E. nur dadurch zu überwinden ist, dass man die Vorteile der Zweisprachigkeit und des Lebens in zwei Kulturkreisen  für sich erkennt und bejaht. Leider verkraften  aber viele Migranten diesen Zwiespalt ihrer Identität nur sehr schwer, sie sind hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen und spüren  eine „Heimatlosigkeit“ sowohl im Herkunftsland wie auch in der neuen Heimat.[5]

d) Andere prägende Einflüsse


Hinzu kommen eine Vielzahl von weiteren Wesensmerkmalen, die ein Volk ausmachen, wie z. B. gemeinsame Bräuche und Sitten, Werte und Normen, Symbole, Lebensweise, Charakterformen, Traditionen, gemeinsame Mythen, Sagen und Märchen, gemeinsame Volkslieder, gemeinsame geschichtliche Erinnerungen. Aber auch viele äußere Einflüsse, wie Geographie, Geschichte, Religion und Wirtschaft können die Eigenartigkeit oder Einzigartigkeit eines Volkes prägen. So hat die Insellage Islands oder Maltas zur Ausbildung eines eigenen Volkes beigetragen und zu einer Sonderentwicklung der britischen Inseln geführt.



e) Der Begriff „Volk“ in verschiedenen Sprachräumen


Weiterhin muss man sich bei der Begriffsbestimmung „Volk“ wie auch im folgenden bei „Nation“ darüber im klaren sein, dass diese Begriffe im deutschen Sprachraum einen anderen Gehalt haben als etwa im englischen und französischen Sprachgebiet. Auch in Dokumenten der UN ist der Begriff „people“ oder „peuple“ nicht das, was wir im Deutschen unter „Volk“ verstehen. Demgegenüber weisen die slawischen Sprachen mit dem Begriff „narod“ eine sehr große Nähe zum deutschen soziologisch begründeten Begriff auf. In der anglo-amerikanischen Fachliteratur verzichtet man daher oft auf eine Übersetzung von „Volk“ und es ist in den letzen Jahren zu beobachten, dass anstelle des deutschen Begriffs „Volk“ sich der Begriff „Ethnie“ immer mehr durchsetzt (im englischen „ethnic comunity“, im französischen Communauté ethnique“[6]
Dies ist auch im Austausch mit anderen Sprachgemeinschaften sinnvoll, denn auch im deutschen ist der Begriff „Volk“ mehrdeutig. Er kann auch bedeuten: eine Ansammlung von Leuten, eine bestimmte Gruppe, z. B. das arbeitende Volk, die Summe der Wähler im demokratischen Staat („alle Gewalt geht vom Volke aus!“ bzw. bei Gericht: „Im Namen des Volkes“) oder eben im Sinne dieser Abhandlung als das deutsche Volk als Sprach- und Kulturgemeinschaft (siehe auch im folgenden unter Nation).


3. Was ist eine Nation?


Der französische Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823 – 1892) hat in einem Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882 diese Frage gestellt („Qu’est-ce qu’une nation?“) und damit den „Klassiker“ für alle folgenden Debatten zu diesem Thema geliefert. Er selbst stellt einleitend fest, dass die Idee der Nation zu den gefährlichsten Mißverständnissen Anlaß gibt. Die Rede hielt er auch unter dem Eindruck des Krieges von 1870/71 und der Angliederung Elsass-Lothringens an das von Bismarck geschaffene neue preußisch dominierte Deutsche Reich.

Vierzig Jahre später – am 19. 2. 1922 -  hielt der deutsche Historiker und Publizist Prof. Dr. Hermann Oncken (1869-1945) einen ebenso stark beachteten Vortrag auf einer Tagung der elsass-lothringischen Studentenbünde in Heidelberg – ebenso stark beeinflusst von der gerade nach dem Versailler Vertrag erfolgten Rückgliederung von Elsass-Lothringen an Frankreich. Der Vortrag stand unter dem Titel „Staatsnation und Kulturnation“. [7]

Mit diesen beiden Vorträgen wurden die beiden wesentlichen Gesichtspunkte von „Nation“ herausgearbeitet und sie zeigen uns die unterschiedliche Denkweise im Westen einerseits und in Zentral- und Osteuropa andererseits.

a) Der westliche Begriff der Nation


Ausgehend von Frankreich und Großbritanien wird in Westeuropa und den Vereinigten Staaten (und inzwischen weiten Teilen der Welt) die Nation mit dem Staate gleichgesetzt (Staat = Nation). Ernest Renan hat das durchaus noch differenzierter gesehen. Für ihn waren (1882) Frankreich, Großbritanien, das Deutsche Reich und Italien, aber auch Belgien und die Schweiz eine „Nation“, während Östereich und das türkisch beherrschte Osmanische Reich für ihn keine Nationen waren. Dabei war er sich bewusst, dass „….Die Vereinigung einer Nation … sich immer auf brutale Weise vollzieht. Die Vereinigung Nord- und Südfrankreichs ist das Ergebnis von fast einem Jahrhundert Ausrottung und Terror gewesen. Der König von Frankreich… der die vollkommenste nationale Einheit vollbracht hat, die es überhaupt gibt - verliert, von nahem besehen, seinen Nimbus. Die von ihm geformte Nation hat ihn verflucht, und jetzt wissen nur noch ein paar Gebildete, was er galt und was er getan hat.“ Nachdem Renan dann darlegt, warum Rasse, Sprache und Religion nicht geeignet sind, die Basis für eine Nation zu sein, kommt er zu der Feststellung: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.“ Auch im Hinblick auf Elsass-Lothringen kommt Renan aber zu der entscheidenden Erkenntnis:
„Nation ist, was eine Nation sein will“ und zu dem berühmten Ausspruch „L’existence d’une nation est un plébiscite des tous les jours!“, das heißt, die  Existenz einer Nation hängt von der immerwährenden Zustimmung ihrer Angehörigen ab.[8]
Leider ist die diffenzierte Haltung Renans bei den Lenkern der Staaten in der westlichen Welt in der Folge und besonders nach dem ersten Weltkrieg verlorengegangen. Im Überschwang des Sieges – und entgegen dem vom US-Präsidenten vertretenen Selbstbestimmungsrecht  -  versuchte man das westliche (britisch-französische) Nationalstaats-Modell auf Mittel- und Osteuropa zu übertragen, wobei willkürliche Grenzen ohne Rücksicht auf die gemischte Bevölkerung gezogen und einzelne Völker (z. B. Polen, Tschechen und Serben) aus politisch-militärischen Gründen bevorzugt wurden. Anstelle der ausgewogenen föderalistischen Struktur des österreichischen Kaiserreichs schaffte man neue kleinere Nationalitätenstaaten, denn ein Gebiet mit reinen Ethnien/Nationalitäten gab es in diesem mittel-ost-europäischen Zwischenraum nicht. Das konnte für die übrigen Völker – nicht berücksichtigten Völker und Volksgruppen - nur bedeuten, dass sie die Verträge von Versailles und der übrigen Pariser Vororte als Resultat eines willkürlichen, parteiischen und intriganten Spiels betrachteten. Tatsächlich nahmen die englischen und französischen Delegierten bei den Friedensvertrags-Verhandlungen, als es zur Auslegung der Minderheitenverträge kam, kein Blatt mehr vor den Mund. So meinte Briand: „Der Prozess, den wir im Auge haben, zielt zwar nicht direkt auf das Verschwinden der Minderheiten ab, aber doch auf ihre Assimilation.“ Und der Brite, Sir Austen Chamberlain, ging so weit, offen zu erklären, das das „Ziel der Minderheitenverträge darin besteht …. Schutz und Gesetzlichkeit sicherzustellen, die nach und nach die Minderheiten darauf vorbereiten sollen, sich in den nationalen Gemeinschaften aufzulösen, zu denen sie gehören“[9]  Peter Glotz spricht von dem willkürlichen, in zahllosen Einzelfällen sinnlosen nationalstaatlichen Schnittmuster, das bei den Pariser Vorortverträgen über Europa gepresst wurde.[10]

Diese national-staatlichen Denkstrukturen führten fast zwangsläufig zu den späteren Konflikten. Dennoch sind sie leider in vielen westlichen Staaten auch heute noch nicht überwunden. So hat Frankreich noch immer nicht (Stand  2018) das „Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten“ und die „Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ von 1992 ratifiziert und umgesetzt. Eine ähnlich ablehnende Haltung nimmt Griechenland ein. Demgegenüber hat Großbritanien beide Verträge unterzeichnet und hier zeichnet sich ein Umdenken besonders auch im Hinblick auf Schottland und Wales ab. Auch in der Nordirischen Frage setzten die britischen Regierungen auf Vermittlung in dem Konflikt zwischen der pro-irischen und pro-britischen Bevölkerung Nordirlands.

Es ist aber nicht zu verkennen, dass sich der westliche Gedanke der Einheit von Staat und Nation inzwischen auch in Mitteleuropa in vielen Köpfen festgesetzt hat. So wird oft gedankenlos Nation statt Staat als Begriff benutzt, inbesondere bei verschieden Wortkombinationen wie Nationalhymne, Nationalbank, Nationalmannschaft. Ich bringe die Kombination von Nationalmannschaft mit Liechtenstein, San Marino oder Monaco nur schwer über die Lippen, in der Vergangenheit war es mir noch peinlicher, wenn von einer DDR-Nationalmannschaft die Rede war, die gegen die Nationalmannschaft der Bundesrepublik Deutschland kämpfte. Ebenso unwirklich war die Benennung von Jugoslawien und der Tschechoslowakei als Nation. Gerade letztgenannte Beispiele zeigen, dass eine Staats-Nation mit dem Übergewicht und der politischen Macht eines Volkes zum Scheitern verurteilt war und schließlich auch gescheitert ist. Dauerhaft lebensfähig ist sicher nur ein Modell wie das der Schweiz mit einer ausgeprägten föderalen Struktur oder ein tatsächlich  föderal  gegliederter Staat,  der seinen  Minderheiten eine weitgehende Autonomie einräumt. Walter Reese-Schäfer schlug in diesem Zusammenhang vor, [11] die demokratische Nation von der imperialen Nation (und zusätzlich von der ethnisch-kulturellen Nation) zu unterscheiden. Als Beispiel einer imperialen Nation betrachtete er Napoleons Reich. Mir scheint, dass auch das heutige Frankreich immer noch in Denkkategorien einer imperialen Nation gefangen ist.

Ein schönes Beispiel dafür hatte ich schon 1984 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 2. 3. 1984 gefunden und weil es so aussagekräftig ist, aufbewahrt. Die FAZ berichtete, das die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF), die sonst stets als Anwalt der außenpolitischen Interessen der Sowjet-Union funktionierte, einen empörten Protest an das Sekretariat der KPdSU gerichtet habe. Grund: eine sowjetische Publikation über die Weltbevölkerung, in der festgestellt wurde, dass nur 82 % der französischen Bevölkerung Franzosen sind und eine beträchtliche Minderheit anderer Völker in Frankreich lebt. Besonders erregt war man über die Feststellung, dass die Elsässer und Lothringer mit den Deutschen verwandt sind.  Die KPF schrieb: „Wir protestieren mit Empörung gegen diese lächerlichen und schmählichen Behauptungen. Für die KPF und alle französischen Staatsbürger ist jeder Mann und jede Frau mit französischer Staatsangehörigkeit Franzose. Frankreich ist kein multinationaler Staat, es ist ein Land, eine Nation, ein Volk, die Frucht einer langen Geschichte. Jeder Versuch, einige Mitglieder dieser Gemeinschaft  als nicht rein französich zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für das Nationalbewusstsein.“

Dieser Geist des Staats-Nationalismus gehört nicht in unser heutiges demokratisches Europa. Frankreich wird erst dann von der imperialen zur demokratischen Nation, wenn es die Belange seiner vielen ethnischen und kulturellen Minderheiten auch als Gruppe und nicht nur als Einzelperson voll respektiert. Gradmesser wird die Ratifizierung der oben genannten Verträge des Europarates sein!

Mit Befriedigung  ist festzustellen, dass die zusammenwachsende Euroäische Union eine Einheit in Vielfalt sein will. So aufwendig die Anerkennung der vielen Sprachen auch ist, so zeigt sich darin aber eine Haltung, die Vielfalt als Bereicherung begreift. Das kann und muss im Hinblick auf Minderheiten aller Art in den verschiedenen Staaten Europas nur bedeuten: Weg von der Assimilierungs-Politik, hin zur Schaffung von Autonomie und Föderalismus. Die komplexen Fragen von Migration, Integration, Assimilation und Multikulturalismus behandelt mein Post Migration, Integration, Assimilation

b) Der Mittel- und Osteuropäische Begriff der Nation

Die andere – mittel-/osteuropäische - Sicht der Nation vertritt der erwähnte Hermann Oncken nach der erneuten Angliederung von Elsass-Lothringen an Frankreich mit der Feststellung: „Die Elsässer und Lothringer gehören nicht mehr unserem sichtbaren Reiche an – darein haben wir uns zu finden - , wohl aber sind sie  auch heute noch Bürger jener unsichtbaren zweiten Welt, Glieder der deutschen Kulturnation jenseits des Staates.“[12]

Ebenfalls ein Klassiker unter der Literatur zu diesem Thema ist Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“[13]  Von Meinecke stammt die Differenzierung zwischen Staatsnation und Kulturnation. Er schreibt: „Man wird, trotz aller sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen können in Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vorzugsweise auf einem gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen.“ Und an anderer Stelle führt er aus:“Denn innerhalb einer echten Staatsnation können – wie das Beispiel der Schweiz zeigt – die Angehörigen verschiedener Kulturnationen leben; und wiederum die Kulturnation kann in sich – wie das Beispiel der großen deutschen Nation zeigte – mehrere Staatsnationen entstehen sehen, d. h. Bevölkerungen von Staaten, die ihr politisches Gemeingefühl zu kräftiger Eigenart ausprägen, die dadurch zu einer (Staats-) Nation werden, oft es bewußt werden wollen, zugleich aber  - sie mögen es wollen  und wissen oder nicht – auch Angehörige jener größeren umfassenderen Kulturnation bleiben können.“[14]

Man bedenke, das hat Meinecke vor dem 1. Weltkrieg geschrieben, als es z. B. keinen polnischen Staat gab und die polnische (Kultur-) Nation auf 3 Staaten aufgeteilt war. Meinecke hat damals m. E. nicht nur für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg, sondern auch für heute eine Definition geliefert, die am ehesten geeignet ist, eine friedliches Zusammenleben von Völkern und Volksgruppen auch in unterschiedlichen, geschichtlich gewachsenen Staaten zu gewährleisten. Die mittel-osteuropäische Definition von Nation hat zur Zeit der polnischen Teilung (1831) der polnische Dichter und Professor für Literatur Kasimierz Brodzinski u. a. so formuliert: „Eine Nation ist eine … Idee, die von allen denen, die sie vereint, verwirklicht wird. Sie ist eine Familie mit eigenem Schicksal und eigener Mission…..Früher hielt jedes Volk sich für Ziel und Mittelpunkt aller Dinge, so wie man die Erde als Mittelpunkt des Universums sah….Kopernikus entdeckte das System des Universums…und die polnische Nation hat erkannt, dass jedes Volk nur Teil eines ganzen ist….Jedes bildet ein zusammenhängendes und notwendiges Ganzes, dessen Kräfte sich im Gleichgewicht halten. Nur blinder Egoismus weigert sich, das anzuerkennen. Ich erkläre, dass die polnische Nation…der Kopernikus der moralischen Welt ist. Missverstanden und verfolgt wird sie dennoch weiterbestehen und Menschen finden, die sich gläubig zu ihr bekennen….[15]

Für das Problem der regionalen und nationalen Identität habe ich am Beispiel des deutschen Volkes einen m. E. guten Lösungsansatz gefunden. Siehe 2.01 a Das Deutsche Volk in Europa, Abschnitt 5

Wenn wir die europäische Landkarte betrachten, gibt es außer Island und den Kleinststaaten keinen Staat, der nicht ethnische, kulturelle oder religiöse Minderheiten innerhalb seiner Grenzen hat. Eine Änderung bestehender Staats-Grenzen führt bei der Mehrzahl aller europäischen Minderheiten nur zu neuen Problemen und ggf. neuen Minderheiten. Deshalb setzt sich in Europa immer mehr die politische Willensbildung  durch, dass die nationalen Grenzen ihre trennende Wirkung verlieren müssen und die demokratischen Staaten entweder über eine föderalistische Struktur und/oder eine Autonomie für ethnisch-kulturelle Minderheiten verfügen sollen, wie dies z. B. in Italien mit den autonomen Provinzen Südtirol und Aostatal weitgehend verwirklicht wurde und wie es darüberhinaus in der staatsübergreifenden Region Tirol zum Ausdruck kommt. Diese Grundhaltung ist inzwischen auch ein wichtiges Aufnahmekriterium für neue EU-Mitglieder.

Da der Begriff (Kultur-) Nation in der Vergangenheit auch mißbraucht wurde und zu nah beim Begriff der Staats-Nation empfunden wird, plädiere ich für die heute weitgehend akzeptierte - aber leider weniger griffige - Bezeichnung Sprach- und Kulturgemeinschaft anstelle bzw. für die Kulturnation. In Südtirol sind sich die Menschen deutscher Muttersprache aufgrund ihrer besonderen Situation sehr bewusst, dass sie Teil der viel größeren deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft sind. Die italienischsprachigen Südtiroler hingegen betrachten sich überwiegend als Teil des italienischen Staatsvolkes, obwohl inzwischen auch hier ein Umdenken anzutreffen ist.

4. Was ist der Staat?


„Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer“, so lässt Friedrich Nietzsche  seinen Zarathustra sprechen.[16] Und  gleichzeitig spricht er vom Tode der Völker. Sicherlich ist ihm recht zu geben, wenn man Staat mit den Nationalstaaten der letzten 2 Jahrhunderte gleichsetzt. Mit dem Ende der Reichsidee und seit der französischen Revolution hat sich ein Völkerrecht herausgebildet, dessen einzige Rechtssubjekte die Staaten und nicht die Völker sind. So haben in der UN-Vollversammlung alle Staaten eine Stimme, ganz gleich ob sie einige Tausend oder viele Millionen Einwohner repräsentieren. Lediglich die 5 ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates sind gegenüber den übrigen Staaten bevorrechtigt, aber im Prinzip nur indem sie mit ihrem Vetorecht ihnen nicht genehme Beschlüsse verhindern können.

Beim Staat haben wir insofern die geringsten Probleme mit der Definition: Staat ist unabhängig von der Staats- oder Herrschaftsform ein räumlich durch natürliche oder vertraglich festgelegte Grenzen genau definiertes Gebiet bzw. Territorium. Innerhalb dieses Territoriums hat die staatliche Gewalt (z. B. die demokratisch legitimierte Regierung oder auch ein König oder Diktator) die Gebietshoheit. Sie vertritt die Bevölkerung nach außen und kann mit anderen Staaten Verträge schließen. Dabei soll in demokratischen Staaten die Willensbildung des Volkes entscheiden, welche Regierung auf Zeit diese Machtbefugnis ausübt, wobei gleichzeitig eine Gewaltenteilung vorliegen muss (Legislative = vom Volk gewählte Abgeordnete, die Gesetze beschließen können, Exekutive = die Regierung bzw. der gewählte Präsident und eine unabhängige Justiz, die nur den festgelegten Gesetzen verpflichtet ist.)

Wir unterscheiden Einheitsstaaten, d. h. Staaten die zentral von einer Stelle aus (in der Regel der Hauptstadt) bis ins letzte Dorf hinein regiert werden. Regionen oder Provinzen in einem solchen zentralistisch regierten Staat sind nur Verwaltungseinheiten.  In föderalen Staaten, die aus mehreren Teilgebieten (z. B. Bundesländern, Provinzen, Kantonen oder autonomen Gebieten) bestehen, haben diese Teilgebiete im festgelegten und vertraglich vereinbartem Umfang eine eigene Legislative und Exekutive und das Recht
z. B. im Bereich Kultur, Schule u. a. eigene Wege zu gehen.

Staatsanghörige in allen Staatsformen haben Rechte und Pflichten. In totalitären Staaten sind die Rechte oft stark eingeschränkt. Ansonsten haben Staatsbürger Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates im Rahmen der festgelegten gesetzlichen Bestimmungen und als vornehmstes Recht im demokratischen Staat das Wahlrecht, mit dem sie in bestimmten Abständen die Abgeordneten und in manchen Staaten auch das Staats- oder Regierungsoberhaupt mitbestimmen können.

Migranten oder Asylsuchende aus anderen Staaten müssen sich zwar an die staatlichen Gesetze und Vorschriften des Aufnahmelandes halten, haben aber eingeschränkte Rechte und insbesondere kein Wahlrecht. Sie können aber unter bestimmten Voraussetzungen die Staatsangehörigkeit des Gastlandes erwerben. Dadurch werden sie gleichberechtigte Staatsbürger, auch dann, wenn sie weiterhin einem anderen Sprach- und Kulturkreis angehören. (siehe oben unter 2 b – schwebendes Volkstum und meinen Post Migration - Integration - Assimilation). Wichtig erscheint mir an dieser Stelle, dass der Begriff Nationalität anstelle von Staatsanghörigkeit missgedeutet werden kann. Da die Zugehörigkeit zu einer Nationalität (Sprache, Kultur) individuell entschieden wird und sich ändern kann, sollte ausschließlich der Begriff Staatsangehörigkeit benutzt werden. In manchen osteuropäischen Staaten wurde und wird auch im Pass beides angegeben (Staatsangehörigkeit und Nationalität).

Staaten können sich auch zu Bundesstaaten oder Staaten-Bünden zusammenschließen und dabei bestimmte Hoheits-Rechte an eine übergeordnete Zentralgewalt abgeben. In Europa erleben wir seit einigen Jahrzehnten den Prozess der europäischen Einigung, der zunächst eine Wirtschaftsunion als vordringliches Ziel hatte. Inzwischen sind sich die in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten aber einig in dem Prinzip, dass dieser Zusammenschluss auch eine Wertegemeinschaft darstellt, die die Menschenrechte respektiert und für viele weitere Bereiche über festgelegte Standards wacht. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen, aber er hat bewirkt, dass in diesem Europa der unselige Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts mit einem egoistischen Nationalismus der Vergangenheit angehört und ein Krieg zwischen den Mitgliedern dieser neuen Gemeinschaft undenkbar geworden ist. Zu den Standards gehört auch die Respektierung von nationalen und religiösen Minderheiten. So besteht die große Hoffnung, dass auch in anderen Bereichen Europas – z. B. auf dem Balkan – nach Integration weiterer Staaten - , künftig diese Grundsätze ebenso beachtet werden und ein noch größerer Bereich Europas befriedet wird.





[1] Sprachenpolitik in Mittel- und Osteuropa, darin Martin Stegu „Europäische Mehrsprachigkeit und plurale Identität: neue Aufgaben für die Angewandte Linguistik“ , S. 124
[2] Friedrich Meinecke „Weltbürgertum und Nationalstaat“ Nachdruck 1962. Die Erstausgabe erschien 1907 und war natürlich noch von der damaligen Zeit geprägt, die in Volk und Nation vor allem eine Abstammungsgemeinschaft sah. Er stellt zwar fest, dass es im anthropologischen Sinne keine rassenreinen Nationen gibt, aber auch, dass neben anderen Faktoren - wie der gleichen Sprache – bei Völkern eine gemeinsame oder ähnliche Blutmischung vorliegt (S. 9), eine Vorstellung, die heute nur schwer nachvollziehbar ist. So wertvoll das Buch für eine geschichtliche Betrachtung des Themas ist, so wenig kann es daher den heutigen Europäer überzeugen. Siehe auch Anmerkung 4.
[3] Max Hildebert Boehm: „Das eigenständige Volk“, Neuausgabe 1965
[4] wie vor  u. a. S. 17 und S.  306
[5] Feridun Zaimoglu: „Kanak Sprak“, u. a. S. 10f:“…wird die zweite Kanakengeneration geboren. Sie ist, wie die meisten Deutschen, weit davon entfernt, der Türkei mehr Beachtung zu schenken als einem Urlaubsland….aber viele erkranken auf Dauer psychosomatisch. Sie werden in den türkischen Dörfern und Städten als „Deutschländer“ angefeindet
[6] Staatliche und nationale Einheit Deutschlands – ihre Effektivität, darin Theodor Veiter „Nation und Volk als Rechtsbegriffe unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Frage“ S.105ff
[7] Hermann Oncken: „Staatsnation und Kulturnation – Elsass-Lothringen und die deutsche Kulturgemeinschaft“, Verlag Willy Ehrig Heidelberg 1922
[8] Die Rede Renans wurde z. B. veröffentlicht in: Jeismann, Michael / Ritter, Henning: Grenzfälle - Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993
[9] zitiert nach Hannah Arendt „Elemente totaler Herrschaft“, S. 16 – 19,  Frankfurt  1958
[10] Peter Glotz: „Der Irrweg des Nationalstaats“, S. 105, DVA Stutgart 1990
[11] Reese-Schäfer: „Universalismus, negativer Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen“ in Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen“ (Fischer-Taschenbuch Frankfurt 1991)
[12]  siehe Anmerkung 14, S. 20
[13] Friedrich Meinecke „Weltbürgertum und Nationalstaat“ - Erstausgabe 1907, Neudruck mit Einleitung  München 1962
[14] wie vor, S. 10 - 12
[15] zitiert nach Dorothea Weidinger (Hrsg.): „Nation – Nationalismus – nationale Identität“ (Bundeszentrale für politische Bildung Band 392) – S. 30
[16] Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“ (Digitale Bibliothek Band 2, S. 676804/62)

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