Übersicht
1. Vorbemerkung
2. Was ist ein Volk?
a) Der Begriff "Volk"
a) Der Begriff "Volk"
e) Der Begriff „Volk“ in
verschiedenen Sprachräumen
Der französische Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823 – 1892) hat in einem Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882 diese Frage gestellt („Qu’est-ce qu’une nation?“) und damit den „Klassiker“ für alle folgenden Debatten zu diesem Thema geliefert. Er selbst stellt einleitend fest, dass die Idee der Nation zu den gefährlichsten Mißverständnissen Anlaß gibt. Die Rede hielt er auch unter dem Eindruck des Krieges von 1870/71 und der Angliederung Elsass-Lothringens an das von Bismarck geschaffene neue preußisch dominierte Deutsche Reich.
a) Der westliche Begriff der
Nation
b) Der Mittel- und Osteuropäische
Begriff der Nation
1. Vorbemerkung
2. Was ist ein Volk?
a) Der Begriff "Volk"
b) Wesentliches Merkmal
eines Volkes – seine Sprache
c) Ausnahmen von der
Regel „Sprache“
d) Andere prägende
Einflüsse
e) Der Begriff „Volk“ in
verschiedenen Sprachräumen
3. Was ist eine Nation?
a) Der westliche Begriff
der Nation
b) Der Mittel- und
Osteuropäische Begriff der Nation
4. Was ist der Staat?
1. Vorbemerkung
Von Blaise Pascal ( französischer Mathematiker,Physiker und Philosoph
–1623 – 1662) soll die Forderung stammen: „Definiert die Begriffe!“. Eine Definition von Worten und Begriffen ist
sicher in vielen Bereichen wichtig und notwendig, damit eine Verständigung oder
auch Diskussion zwischen Menschen möglich ist, sonst redet man – wie so oft –
aneinander vorbei. Neben der Religion gibt es wohl keinen weiteren Bereich, wo
mit den gleichen Worten völlig unterschiedliche Vorstellungen verbunden sind,
wie bei den deutschen Begriffen „Volk“, „Nation“ und „Staat“. Ich zitiere: „Selbst im Bewusstsein,
dass Begriffe wie „Nation“ und „Identität“ sehr verschieden definiert sein
können, wird von vielen….so argumentiert, als ob es sich dabei um eindeutige
Größen handle, die in der Wirklichkeit ihre Entsprechung haben müssten.
Besonders heikel wird es dann, wenn an sich eine gute Sache vertreten wird,
etwa beim Eintreten… für bedrohte Minderheiten“[1]
Zu den drei Oberbegriffen
kommt noch eine Fülle von hieraus abgeleiteten oder verwandten Begriffen wie z.
B.: Nationalstaat, Nationalitätenstaat, Staatsnation, Nationalität, Volksgruppe,
nationale Minderheit, Ethnie, Kulturnation, Sprachgemeinschaft,
Kulturgemeinschaft, Stamm, Rasse, Vaterland, Muttersprache, Identität u. v. a.
und nicht zu vergessen der Nationalismus, der große Zerstörer eines friedlichen
Zusammenlebens verschiedener Völker und Volksgruppen.
Nach Studium einer sehr
umfangreichen und zum Teil kontroversen Literatur zu diesem Thema, möchte ich
den Versuch unternehmen, die oft benutzten Begriffe Volk, Nation und Staat zu
definieren. Dabei bin ich mir bewusst, dass es auf diesem Gebiet keine absolute
Wahrheit gibt. Schon der Klassiker der Literatur zu diesem Thema, Friedrich
Meinecke, beginnt sein Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat“, mit der
Feststellung: „…dass es keine Formel gibt, welche allgemeingültig die Merkmale dafür
angibt“[2]
Mein Anliegen ist es
vielmehr, zu einem bewußten Gebrauch dieser Begriffe anzuregen und zu
versuchen, den dahinter stehenden Inhalt zu erläutern. Besondere Aspekte im Hinblick auf das deutsche Volk und die
deutsche Nation werden unter 2.01a Das deutsche Volk in Europa und 2.01b Die deutsche Sprache behandelt.
2. Was ist ein Volk?
a) Der Begriff "Volk"
Durch den
Nationalsozialismus im besonderen, aber
auch andere totalitäre Bewegungen (Faschismus, Kommunismus besonders in seiner
Ausprägung als Stalinismus), ist der Begriff Volk negativ belastet. Deshalb ist
es gut zu wissen, dass ein wissenschaftliches Basiswerk , das sich erstmals
systematisch mit der Lehre vom Volk beschäftigt, und seine Eigenständigkeit gegenüber
Staat, Religion, Stand, Klasse und anderen sozialen Faktoren herausstellt, bereits 1932 unter dem Titel "Das eigenständige Volk" erschienen ist.[3]
Im Geleitwort zur
Neuausgabe 1965 schreibt der Verfasser, Prof. Dr. Max Hildebert Boehm, dass
durch die Ungunst der Geburtsstunde dieses Buch eigentümlich „unzeitgemäß“
erschien – vielleicht verspätet oder auch verfrüht. Er stellt fest, dass durch
den Zusammenbruch von 1945 ein besonnenes Nachdenken über Volk und Volkstum
zunächst praktisch aussetzte. Weite Kreise der öffentlichen Meinung hielten
Begriffe und Vokabeln wie Volk und Volkstum für originär
nationalsozialistisch und haben sie
deshalb ungeprüft global verworfen. Dabei hat Boehm bereits in „unzeitgemäßer“
Situation eine klare Absage an alle herausgearbeitet,
die „Volk“ in irgernd einer Weise mit Rassismus und Nationalismus in
Zusammenhang bringen wollten. Dazu stellte er u. a. fest, dass ein Volk allein
aufgrund der verschiedenen Wanderungsbewegungen, des Handels und der Kriege in
Europa niemals auf eine gemeinsame
Abstammung oder gar Blutsverwandschaft
gegründet sein kann[4]
b) Wesentliches Merkmal eines Volkes – seine Sprache
Im Kapitel 1.231 Sprachenals Identitätsmerkmal gehe ich ausführlich auf
das Identität stiftende Merkmal der Sprache ein. Zweifellos ist die gemeinsame
(Hoch-)Sprache bei den meisten Völkern das wichtigste Kennzeichen der
Zugehörigkeit zu einem Volk bzw. einer Kultur-Nation oder Sprach- und
Kulturgemeinschaft.
c) Ausnahmen von der Regel "Sprache"
Obwohl die Sprache einen so wichtigen Einfluss auf die Zusammengehörigkeit eines Volkes spielt, müssen wir feststellen, dass die Sprache nicht generell das Hauptkennzeichen für die Zugehörigkeit zu einem Volk ist. Trotz
gemeinsamer Sprache wird ein Ire entschieden protestieren, wenn man ihn als
Engländer oder als Angehöriger des englischen Volkes bezeichnet, in gleicher Weise die meisten Schotten oder Waliser. Umgekehrt legen protestantische Nordiren
Wert auf ihre enge Bindung an England bzw. Großbritanien. Im ehemaligen
Jugoslawien hatte man sogar die gemeinsame Sprache Serbokroatisch für Serben,
Kroaten, Montenegriner und Bosnier geschaffen und tatsächlich bestehen zwischen
diesen Völkern keinerlei Verständigungsprobleme. Dennoch hat die gemeinsame
Sprache nicht dazu beigetragen, ein einheitliches Volksbewußtsein zu schaffen.
Die beiden Beispiele – Großbritanien und Jugoslawien – zeigen, dass andere
Faktoren, in diesen Fällen die Religion und eine jahrhundertelange getrennte
Geschichte, prägendere Faktoren sein können.
Darüberhinaus gibt es das Problem des sogenannten
„schwebenden Volkstums“. Wir treffen dieses Phänomen besonders in Grenzregionen
an, z. B. in Oberschlesien, dem Elsass oder in Süd-Kärnten, wo die Bevölkerung
zwischen den Kulturen hin- und hergerissen wird und ein staatlicher Druck hin
zur Mehrheitssprache und Kultur dazu führen kann, dass die Entwicklung hin zur
Staatssprache kaum aufzuhalten ist. Allerdings gibt es auch gerade in diesen
Regionen positive Gegenbeispiele, die zeigen, dass man sich seiner besonderen
Situation bewußt wird und dafür eintritt, dass die angestammte Sprache und
Kultur nicht verlorengeht. Das Problem des schwebenden Volkstums gibt es
darüberhinaus vor allem bei Migranten und Asylanten, die zwar ein Interesse
daran haben, die Sprache ihrer neuen Heimat (?) zu erlernen, aber ihre
Identität und Bindung an die Herkunftskultur nicht aufgeben wollen. Besonders
die nachfolgenden Generationen dieser Zuwanderer sind dann oft in einem
Gewissenskonflikt, der m. E. nur dadurch zu überwinden ist, dass man die
Vorteile der Zweisprachigkeit und des Lebens in zwei Kulturkreisen für sich erkennt und bejaht. Leider
verkraften aber viele Migranten diesen
Zwiespalt ihrer Identität nur sehr schwer, sie sind hin- und hergerissen
zwischen zwei Kulturen und spüren eine
„Heimatlosigkeit“ sowohl im Herkunftsland wie auch in der neuen Heimat.[5]
d) Andere prägende Einflüsse
Hinzu kommen eine
Vielzahl von weiteren Wesensmerkmalen, die ein Volk ausmachen, wie z. B.
gemeinsame Bräuche und Sitten, Werte und Normen, Symbole, Lebensweise,
Charakterformen, Traditionen, gemeinsame Mythen, Sagen und Märchen, gemeinsame
Volkslieder, gemeinsame geschichtliche Erinnerungen. Aber auch viele äußere
Einflüsse, wie Geographie, Geschichte, Religion und Wirtschaft können die
Eigenartigkeit oder Einzigartigkeit eines Volkes prägen. So hat die Insellage
Islands oder Maltas zur Ausbildung eines eigenen Volkes beigetragen und zu
einer Sonderentwicklung der britischen Inseln geführt.
e) Der Begriff „Volk“ in
verschiedenen Sprachräumen
Weiterhin muss man sich bei der Begriffsbestimmung „Volk“
wie auch im folgenden bei „Nation“ darüber im klaren sein, dass diese Begriffe
im deutschen Sprachraum einen anderen Gehalt haben als etwa im englischen und
französischen Sprachgebiet. Auch in Dokumenten der UN ist der Begriff „people“
oder „peuple“ nicht das, was wir im Deutschen unter „Volk“ verstehen.
Demgegenüber weisen die slawischen Sprachen mit dem Begriff „narod“ eine sehr
große Nähe zum deutschen soziologisch begründeten Begriff auf. In der
anglo-amerikanischen Fachliteratur verzichtet man daher oft auf eine
Übersetzung von „Volk“ und es ist in den letzen Jahren zu beobachten, dass
anstelle des deutschen Begriffs „Volk“ sich der Begriff „Ethnie“ immer mehr
durchsetzt (im englischen „ethnic comunity“, im französischen Communauté
ethnique“[6]
Dies ist auch im Austausch mit anderen
Sprachgemeinschaften sinnvoll, denn auch im deutschen ist der Begriff „Volk“
mehrdeutig. Er kann auch bedeuten: eine Ansammlung von Leuten, eine bestimmte
Gruppe, z. B. das arbeitende Volk, die Summe der Wähler im demokratischen Staat
(„alle Gewalt geht vom Volke aus!“ bzw. bei Gericht: „Im Namen des Volkes“)
oder eben im Sinne dieser Abhandlung als das deutsche Volk als Sprach- und
Kulturgemeinschaft (siehe auch im folgenden unter Nation).
3. Was ist eine Nation?
Der französische Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823 – 1892) hat in einem Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882 diese Frage gestellt („Qu’est-ce qu’une nation?“) und damit den „Klassiker“ für alle folgenden Debatten zu diesem Thema geliefert. Er selbst stellt einleitend fest, dass die Idee der Nation zu den gefährlichsten Mißverständnissen Anlaß gibt. Die Rede hielt er auch unter dem Eindruck des Krieges von 1870/71 und der Angliederung Elsass-Lothringens an das von Bismarck geschaffene neue preußisch dominierte Deutsche Reich.
Vierzig Jahre später – am 19. 2. 1922 - hielt der deutsche Historiker und Publizist
Prof. Dr. Hermann Oncken (1869-1945) einen ebenso stark beachteten Vortrag auf
einer Tagung der elsass-lothringischen Studentenbünde in Heidelberg – ebenso
stark beeinflusst von der gerade nach dem Versailler Vertrag erfolgten
Rückgliederung von Elsass-Lothringen an Frankreich. Der Vortrag stand unter dem
Titel „Staatsnation und Kulturnation“. [7]
Mit diesen beiden Vorträgen wurden die beiden wesentlichen
Gesichtspunkte von „Nation“ herausgearbeitet und sie zeigen uns die
unterschiedliche Denkweise im Westen einerseits und in Zentral- und Osteuropa
andererseits.
a) Der westliche Begriff der
Nation
Ausgehend von Frankreich und Großbritanien wird in
Westeuropa und den Vereinigten Staaten (und inzwischen weiten Teilen der Welt)
die Nation mit dem Staate gleichgesetzt (Staat = Nation). Ernest Renan hat das
durchaus noch differenzierter gesehen. Für ihn waren (1882) Frankreich,
Großbritanien, das Deutsche Reich und Italien, aber auch Belgien und die
Schweiz eine „Nation“, während Östereich und das türkisch beherrschte Osmanische
Reich für ihn keine Nationen waren. Dabei war er sich bewusst, dass „….Die
Vereinigung einer Nation … sich immer auf brutale Weise vollzieht. Die
Vereinigung Nord- und Südfrankreichs ist das Ergebnis von fast einem
Jahrhundert Ausrottung und Terror gewesen. Der König von Frankreich… der die
vollkommenste nationale Einheit vollbracht hat, die es überhaupt gibt -
verliert, von nahem besehen, seinen Nimbus. Die von ihm geformte Nation hat ihn
verflucht, und jetzt wissen nur noch ein paar Gebildete, was er galt und was er
getan hat.“ Nachdem Renan dann darlegt, warum Rasse, Sprache und Religion nicht
geeignet sind, die Basis für eine Nation zu sein, kommt er zu der Feststellung:
„Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit
nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon
gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der
gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das
gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe
hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.“ Auch im Hinblick auf
Elsass-Lothringen kommt Renan aber zu der entscheidenden Erkenntnis:
„Nation ist, was eine Nation sein will“ und zu dem
berühmten Ausspruch „L’existence d’une nation est un plébiscite des tous les
jours!“, das heißt, die Existenz einer
Nation hängt von der immerwährenden Zustimmung ihrer Angehörigen ab.[8]
Leider ist die diffenzierte Haltung Renans bei den Lenkern
der Staaten in der westlichen Welt in der Folge und besonders nach dem ersten
Weltkrieg verlorengegangen. Im Überschwang des Sieges – und entgegen dem vom
US-Präsidenten vertretenen Selbstbestimmungsrecht - versuchte man das westliche (britisch-französische)
Nationalstaats-Modell auf Mittel- und Osteuropa zu übertragen, wobei
willkürliche Grenzen ohne Rücksicht auf die gemischte Bevölkerung gezogen und
einzelne Völker (z. B. Polen, Tschechen und Serben) aus politisch-militärischen Gründen bevorzugt wurden. Anstelle
der ausgewogenen föderalistischen Struktur des österreichischen Kaiserreichs
schaffte man neue kleinere Nationalitätenstaaten, denn ein Gebiet mit reinen
Ethnien/Nationalitäten gab es in diesem mittel-ost-europäischen Zwischenraum
nicht. Das konnte für die übrigen Völker – nicht berücksichtigten Völker und Volksgruppen
- nur bedeuten, dass sie die Verträge von Versailles und der übrigen Pariser
Vororte als Resultat eines willkürlichen, parteiischen und intriganten Spiels
betrachteten. Tatsächlich nahmen die englischen und französischen Delegierten
bei den Friedensvertrags-Verhandlungen, als es zur Auslegung der
Minderheitenverträge kam, kein Blatt mehr vor den Mund. So meinte Briand: „Der
Prozess, den wir im Auge haben, zielt zwar nicht direkt auf das Verschwinden
der Minderheiten ab, aber doch auf ihre Assimilation.“ Und der Brite, Sir
Austen Chamberlain, ging so weit, offen zu erklären, das das „Ziel der
Minderheitenverträge darin besteht …. Schutz und Gesetzlichkeit
sicherzustellen, die nach und nach die Minderheiten darauf vorbereiten sollen,
sich in den nationalen Gemeinschaften aufzulösen, zu denen sie gehören“[9] Peter Glotz spricht von dem willkürlichen, in zahllosen Einzelfällen
sinnlosen nationalstaatlichen Schnittmuster, das bei den Pariser
Vorortverträgen über Europa gepresst wurde.[10]
Diese national-staatlichen Denkstrukturen
führten fast zwangsläufig zu den späteren Konflikten. Dennoch sind sie leider
in vielen westlichen Staaten auch heute noch nicht überwunden. So hat
Frankreich noch immer nicht (Stand 2018) das „Rahmenübereinkommen des
Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten“ und die „Europäische Charta der
Regional- und Minderheitensprachen“ von 1992 ratifiziert und umgesetzt. Eine
ähnlich ablehnende Haltung nimmt Griechenland ein. Demgegenüber hat
Großbritanien beide Verträge unterzeichnet und hier zeichnet sich ein Umdenken
besonders auch im Hinblick auf Schottland und Wales ab. Auch in der
Nordirischen Frage setzten die britischen Regierungen auf Vermittlung in dem
Konflikt zwischen der pro-irischen und pro-britischen Bevölkerung Nordirlands.
Es ist aber nicht zu verkennen, dass sich der westliche
Gedanke der Einheit von Staat und Nation inzwischen auch in Mitteleuropa in
vielen Köpfen festgesetzt hat. So wird oft gedankenlos Nation statt Staat als
Begriff benutzt, inbesondere bei verschieden Wortkombinationen wie
Nationalhymne, Nationalbank, Nationalmannschaft. Ich bringe die Kombination von
Nationalmannschaft mit Liechtenstein, San Marino oder Monaco nur schwer über
die Lippen, in der Vergangenheit war es mir noch peinlicher, wenn von einer
DDR-Nationalmannschaft die Rede war, die gegen die Nationalmannschaft der
Bundesrepublik Deutschland kämpfte. Ebenso unwirklich war die Benennung von
Jugoslawien und der Tschechoslowakei als Nation. Gerade letztgenannte Beispiele
zeigen, dass eine Staats-Nation mit dem Übergewicht und der politischen Macht
eines Volkes zum Scheitern verurteilt war und schließlich auch gescheitert ist.
Dauerhaft lebensfähig ist sicher nur ein Modell wie das der Schweiz mit einer
ausgeprägten föderalen Struktur oder ein tatsächlich föderal gegliederter
Staat, der seinen Minderheiten eine weitgehende Autonomie einräumt.
Walter Reese-Schäfer schlug in diesem Zusammenhang vor, [11]
die demokratische Nation von der imperialen Nation (und zusätzlich von der
ethnisch-kulturellen Nation) zu unterscheiden. Als Beispiel einer imperialen
Nation betrachtete er Napoleons Reich. Mir scheint, dass auch das heutige
Frankreich immer noch in Denkkategorien einer imperialen Nation gefangen ist.
Ein schönes Beispiel dafür hatte ich schon 1984 in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 2. 3. 1984 gefunden und weil es so
aussagekräftig ist, aufbewahrt. Die FAZ berichtete, das die Kommunistische
Partei Frankreichs (KPF), die sonst stets als Anwalt der außenpolitischen
Interessen der Sowjet-Union funktionierte, einen empörten Protest an das
Sekretariat der KPdSU gerichtet habe. Grund: eine sowjetische Publikation über
die Weltbevölkerung, in der festgestellt wurde, dass nur 82 % der französischen
Bevölkerung Franzosen sind und eine beträchtliche Minderheit anderer Völker in
Frankreich lebt. Besonders erregt war man über die Feststellung, dass die
Elsässer und Lothringer mit den Deutschen verwandt sind. Die KPF schrieb: „Wir protestieren mit
Empörung gegen diese lächerlichen und schmählichen Behauptungen. Für die KPF
und alle französischen Staatsbürger ist jeder Mann und jede Frau mit
französischer Staatsangehörigkeit Franzose. Frankreich ist kein multinationaler
Staat, es ist ein Land, eine Nation, ein Volk, die Frucht einer langen
Geschichte. Jeder Versuch, einige Mitglieder dieser Gemeinschaft als nicht rein französich zu bezeichnen, ist
eine Beleidigung für das Nationalbewusstsein.“
Dieser Geist des Staats-Nationalismus gehört nicht in
unser heutiges demokratisches Europa. Frankreich wird erst dann von der
imperialen zur demokratischen Nation, wenn es die Belange seiner vielen
ethnischen und kulturellen Minderheiten auch als Gruppe und nicht nur als
Einzelperson voll respektiert. Gradmesser wird die Ratifizierung der oben
genannten Verträge des Europarates sein!
Mit Befriedigung
ist festzustellen, dass die zusammenwachsende Euroäische Union eine
Einheit in Vielfalt sein will. So aufwendig die Anerkennung der vielen Sprachen
auch ist, so zeigt sich darin aber eine Haltung, die Vielfalt als Bereicherung
begreift. Das kann und muss im Hinblick auf Minderheiten aller Art in den
verschiedenen Staaten Europas nur bedeuten: Weg von der Assimilierungs-Politik,
hin zur Schaffung von Autonomie und Föderalismus. Die komplexen Fragen von Migration, Integration, Assimilation und Multikulturalismus behandelt mein Post Migration, Integration, Assimilation
b) Der Mittel- und Osteuropäische
Begriff der Nation
Die andere – mittel-/osteuropäische - Sicht der Nation
vertritt der erwähnte Hermann Oncken nach der erneuten Angliederung von
Elsass-Lothringen an Frankreich mit der Feststellung: „Die Elsässer und
Lothringer gehören nicht mehr unserem sichtbaren Reiche an – darein haben wir
uns zu finden - , wohl aber sind sie
auch heute noch Bürger jener unsichtbaren zweiten Welt, Glieder der
deutschen Kulturnation jenseits des Staates.“[12]
Ebenfalls ein Klassiker
unter der Literatur zu diesem Thema ist Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und
Nationalstaat“[13] Von Meinecke stammt die Differenzierung
zwischen Staatsnation und Kulturnation. Er schreibt: „Man wird, trotz aller
sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen können in
Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vorzugsweise auf einem
gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf der
vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung
beruhen.“ Und an anderer Stelle führt er aus:“Denn innerhalb einer echten
Staatsnation können – wie das Beispiel der Schweiz zeigt – die Angehörigen
verschiedener Kulturnationen leben; und wiederum die Kulturnation kann in sich
– wie das Beispiel der großen deutschen Nation zeigte – mehrere Staatsnationen
entstehen sehen, d. h. Bevölkerungen von Staaten, die ihr politisches
Gemeingefühl zu kräftiger Eigenart ausprägen, die dadurch zu einer (Staats-)
Nation werden, oft es bewußt werden wollen, zugleich aber - sie mögen es wollen und wissen oder nicht – auch Angehörige
jener größeren umfassenderen Kulturnation bleiben können.“[14]
Man bedenke, das hat
Meinecke vor dem 1. Weltkrieg geschrieben, als es z. B. keinen polnischen Staat
gab und die polnische (Kultur-) Nation auf 3 Staaten aufgeteilt war. Meinecke
hat damals m. E. nicht nur für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg, sondern auch für
heute eine Definition geliefert, die am ehesten geeignet ist, eine friedliches
Zusammenleben von Völkern und Volksgruppen auch in unterschiedlichen,
geschichtlich gewachsenen Staaten zu gewährleisten. Die mittel-osteuropäische
Definition von Nation hat zur Zeit der polnischen Teilung (1831) der polnische
Dichter und Professor für Literatur Kasimierz Brodzinski u.
a. so formuliert: „Eine Nation ist eine … Idee, die von allen denen, die sie
vereint, verwirklicht wird. Sie ist eine Familie mit eigenem Schicksal und
eigener Mission…..Früher hielt jedes Volk sich für Ziel und Mittelpunkt aller
Dinge, so wie man die Erde als Mittelpunkt des Universums sah….Kopernikus
entdeckte das System des Universums…und die polnische Nation hat erkannt, dass
jedes Volk nur Teil eines ganzen ist….Jedes bildet ein zusammenhängendes und
notwendiges Ganzes, dessen Kräfte sich im Gleichgewicht halten. Nur blinder
Egoismus weigert sich, das anzuerkennen. Ich erkläre, dass die polnische
Nation…der Kopernikus der moralischen Welt ist. Missverstanden und verfolgt wird
sie dennoch weiterbestehen und Menschen finden, die sich gläubig zu ihr
bekennen….[15]
Für das Problem der
regionalen und nationalen Identität habe ich am Beispiel des deutschen Volkes
einen m. E. guten Lösungsansatz gefunden. Siehe 2.01 a Das Deutsche Volk in Europa, Abschnitt 5
Wenn wir die europäische
Landkarte betrachten, gibt es außer Island und den Kleinststaaten keinen Staat,
der nicht ethnische, kulturelle oder religiöse Minderheiten innerhalb seiner
Grenzen hat. Eine Änderung bestehender Staats-Grenzen führt bei der Mehrzahl
aller europäischen Minderheiten nur zu neuen Problemen und ggf. neuen
Minderheiten. Deshalb setzt sich in Europa immer mehr die politische
Willensbildung durch, dass die
nationalen Grenzen ihre trennende Wirkung verlieren müssen und die
demokratischen Staaten entweder über eine föderalistische Struktur und/oder
eine Autonomie für ethnisch-kulturelle Minderheiten verfügen sollen, wie dies
z. B. in Italien mit den autonomen Provinzen Südtirol und Aostatal weitgehend
verwirklicht wurde und wie es darüberhinaus in der staatsübergreifenden Region
Tirol zum Ausdruck kommt. Diese Grundhaltung ist inzwischen auch ein wichtiges
Aufnahmekriterium für neue EU-Mitglieder.
Da der Begriff (Kultur-)
Nation in der Vergangenheit auch mißbraucht wurde und zu nah beim Begriff der
Staats-Nation empfunden wird, plädiere ich für die heute weitgehend akzeptierte
- aber leider weniger griffige - Bezeichnung Sprach-
und Kulturgemeinschaft anstelle bzw. für die Kulturnation. In Südtirol sind sich die Menschen deutscher Muttersprache aufgrund ihrer besonderen Situation sehr bewusst, dass sie Teil der viel größeren deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft sind. Die italienischsprachigen Südtiroler hingegen betrachten sich überwiegend als Teil des italienischen Staatsvolkes, obwohl inzwischen auch hier ein Umdenken anzutreffen ist.
4. Was ist der Staat?
„Staat heißt das kälteste
aller kalten Ungeheuer“, so lässt Friedrich Nietzsche seinen Zarathustra sprechen.[16]
Und gleichzeitig spricht er vom Tode
der Völker. Sicherlich ist ihm recht zu geben, wenn man Staat mit den
Nationalstaaten der letzten 2 Jahrhunderte gleichsetzt. Mit dem Ende der
Reichsidee und seit der französischen Revolution hat sich ein Völkerrecht
herausgebildet, dessen einzige Rechtssubjekte die Staaten und nicht die Völker
sind. So haben in der UN-Vollversammlung alle Staaten eine Stimme, ganz gleich
ob sie einige Tausend oder viele Millionen Einwohner repräsentieren. Lediglich
die 5 ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates sind gegenüber den übrigen
Staaten bevorrechtigt, aber im Prinzip nur indem sie mit ihrem Vetorecht ihnen
nicht genehme Beschlüsse verhindern können.
Beim Staat haben wir
insofern die geringsten Probleme mit der Definition: Staat ist unabhängig von
der Staats- oder Herrschaftsform ein räumlich durch natürliche oder vertraglich
festgelegte Grenzen genau definiertes Gebiet bzw. Territorium. Innerhalb dieses
Territoriums hat die staatliche Gewalt (z. B. die demokratisch legitimierte
Regierung oder auch ein König oder Diktator) die Gebietshoheit. Sie vertritt
die Bevölkerung nach außen und kann mit anderen Staaten Verträge schließen.
Dabei soll in demokratischen Staaten die Willensbildung des Volkes entscheiden,
welche Regierung auf Zeit diese Machtbefugnis ausübt, wobei gleichzeitig eine
Gewaltenteilung vorliegen muss (Legislative = vom Volk gewählte Abgeordnete,
die Gesetze beschließen können, Exekutive = die Regierung bzw. der gewählte
Präsident und eine unabhängige Justiz, die nur den festgelegten Gesetzen
verpflichtet ist.)
Wir unterscheiden
Einheitsstaaten, d. h. Staaten die zentral von einer Stelle aus (in der Regel
der Hauptstadt) bis ins letzte Dorf hinein regiert werden. Regionen oder
Provinzen in einem solchen zentralistisch regierten Staat sind nur
Verwaltungseinheiten. In föderalen
Staaten, die aus mehreren Teilgebieten (z. B. Bundesländern, Provinzen,
Kantonen oder autonomen Gebieten) bestehen, haben diese Teilgebiete im
festgelegten und vertraglich vereinbartem Umfang eine eigene Legislative und
Exekutive und das Recht
z. B. im Bereich Kultur,
Schule u. a. eigene Wege zu gehen.
Staatsanghörige in allen
Staatsformen haben Rechte und Pflichten. In totalitären Staaten sind die Rechte
oft stark eingeschränkt. Ansonsten haben Staatsbürger Anspruch auf den Schutz
und die Fürsorge des Staates im Rahmen der festgelegten gesetzlichen
Bestimmungen und als vornehmstes Recht im demokratischen Staat das Wahlrecht,
mit dem sie in bestimmten Abständen die Abgeordneten und in manchen Staaten
auch das Staats- oder Regierungsoberhaupt mitbestimmen können.
Migranten oder Asylsuchende
aus anderen Staaten müssen sich zwar an die staatlichen Gesetze und
Vorschriften des Aufnahmelandes halten, haben aber eingeschränkte Rechte und
insbesondere kein Wahlrecht. Sie können aber unter bestimmten Voraussetzungen
die Staatsangehörigkeit des Gastlandes erwerben. Dadurch werden sie
gleichberechtigte Staatsbürger, auch dann, wenn sie weiterhin einem anderen
Sprach- und Kulturkreis angehören. (siehe oben unter 2 b – schwebendes
Volkstum und meinen Post Migration - Integration - Assimilation). Wichtig erscheint mir an dieser Stelle, dass der Begriff
Nationalität anstelle von Staatsanghörigkeit missgedeutet werden kann. Da die
Zugehörigkeit zu einer Nationalität (Sprache, Kultur) individuell entschieden
wird und sich ändern kann, sollte ausschließlich der Begriff
Staatsangehörigkeit benutzt werden. In manchen osteuropäischen Staaten wurde
und wird auch im Pass beides angegeben (Staatsangehörigkeit und Nationalität).
Staaten können sich auch
zu Bundesstaaten oder Staaten-Bünden zusammenschließen und dabei bestimmte
Hoheits-Rechte an eine übergeordnete Zentralgewalt abgeben. In Europa erleben
wir seit einigen Jahrzehnten den Prozess der europäischen Einigung, der
zunächst eine Wirtschaftsunion als vordringliches Ziel hatte. Inzwischen sind
sich die in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten aber einig in
dem Prinzip, dass dieser Zusammenschluss auch eine Wertegemeinschaft darstellt,
die die Menschenrechte respektiert und für viele weitere Bereiche über
festgelegte Standards wacht. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen,
aber er hat bewirkt, dass in diesem Europa der unselige Nationalstaat des 19.
und 20. Jahrhunderts mit einem egoistischen Nationalismus der Vergangenheit
angehört und ein Krieg zwischen den Mitgliedern dieser neuen Gemeinschaft
undenkbar geworden ist. Zu den Standards gehört auch die Respektierung von
nationalen und religiösen Minderheiten. So besteht die große Hoffnung, dass
auch in anderen Bereichen Europas – z. B. auf dem Balkan – nach Integration
weiterer Staaten - , künftig diese Grundsätze ebenso beachtet werden und ein
noch größerer Bereich Europas befriedet wird.
[1] Sprachenpolitik in Mittel- und Osteuropa, darin
Martin Stegu „Europäische Mehrsprachigkeit und plurale Identität: neue Aufgaben
für die Angewandte Linguistik“ , S. 124
[2] Friedrich Meinecke „Weltbürgertum und Nationalstaat“
Nachdruck 1962. Die Erstausgabe erschien 1907 und war natürlich noch von der
damaligen Zeit geprägt, die in Volk und Nation vor allem eine
Abstammungsgemeinschaft sah. Er stellt zwar fest, dass es im anthropologischen
Sinne keine rassenreinen Nationen gibt, aber auch, dass neben anderen Faktoren
- wie der gleichen Sprache – bei Völkern eine gemeinsame oder ähnliche
Blutmischung vorliegt (S. 9), eine Vorstellung, die heute nur schwer
nachvollziehbar ist. So wertvoll das Buch für eine geschichtliche Betrachtung
des Themas ist, so wenig kann es daher den heutigen Europäer überzeugen. Siehe
auch Anmerkung 4.
[3] Max Hildebert Boehm: „Das eigenständige Volk“,
Neuausgabe 1965
[4] wie vor u.
a. S. 17 und S. 306
[5] Feridun Zaimoglu: „Kanak Sprak“, u. a. S. 10f:“…wird
die zweite Kanakengeneration geboren. Sie ist, wie die meisten Deutschen, weit
davon entfernt, der Türkei mehr Beachtung zu schenken als einem
Urlaubsland….aber viele erkranken auf Dauer psychosomatisch. Sie werden in den
türkischen Dörfern und Städten als „Deutschländer“ angefeindet
[6] Staatliche und nationale Einheit Deutschlands – ihre
Effektivität, darin Theodor Veiter „Nation und Volk als Rechtsbegriffe unter
besonderer Berücksichtigung der deutschen Frage“ S.105ff
[7] Hermann Oncken: „Staatsnation und Kulturnation –
Elsass-Lothringen und die deutsche Kulturgemeinschaft“, Verlag Willy Ehrig
Heidelberg 1922
[8] Die Rede Renans wurde z. B. veröffentlicht in:
Jeismann, Michael / Ritter, Henning: Grenzfälle - Über neuen und alten
Nationalismus, Leipzig 1993
[9] zitiert nach Hannah Arendt „Elemente totaler
Herrschaft“, S. 16 – 19, Frankfurt 1958
[10] Peter Glotz: „Der Irrweg des Nationalstaats“, S.
105, DVA Stutgart 1990
[11] Reese-Schäfer: „Universalismus, negativer
Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen“ in Universalismus,
Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen“ (Fischer-Taschenbuch
Frankfurt 1991)
[12] siehe
Anmerkung 14, S. 20
[13] Friedrich Meinecke „Weltbürgertum und Nationalstaat“
- Erstausgabe 1907, Neudruck mit Einleitung
München 1962
[14] wie vor, S. 10 - 12
[15] zitiert nach Dorothea Weidinger (Hrsg.): „Nation –
Nationalismus – nationale Identität“ (Bundeszentrale für politische Bildung
Band 392) – S. 30
[16] Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“
(Digitale Bibliothek Band 2, S. 676804/62)
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