1. Namen, Lage und Zahlen
Die Rätoromanen der Schweiz sind eine von drei Gruppen der verbliebenen Rätoromanen im Alpenraum (siehe 3.09 Rätoromanische Völker). Die Benennung ist nicht einheitlich. In der Regel wird die Bezeichnung auch als Oberbegriff für alle 3 Volksgruppen (Rätoromanen der Schweiz, Dolomiten-Ladiner und Friauler) benutzt. Daher hat sich besonders in der Sprachwissenschaft der Terminus „Bündnerromanisch“ bzw. Bündner-Romanen herausgebildet, um die Rätoromanen des Kantons Graubünden von den Ladinern und Friaulern abzugrenzen. In der Alltagspraxis hat sich diese zweifellos präzisere Benennung aber nicht durchgesetzt. Rätoromanisch ist eine von vier Landessprachen der Schweiz und Rätoromanisch ist die offizielle Bezeichnung laut Schweizerischer Verfassung und Amtsführung für alle rätoromanischen Idiome (s.u.) . Teilweise wird auch nur „Romanisch“ verwandt, was linguistisch natürlich noch unpräziser ist.
Rätoromanen leben vornehmlich im Kanton Graubünden, der flächenmäßig der größte und gleichzeitig der einzige dreisprachige Kanton der Schweiz ist. Ende 2011 zählte der Kanton Graubünden 193.388 Einwohnerinnen und Einwohner, davon sprechen 68 Prozent Deutsch, 15 Prozent Rätoromanisch, 10 Prozent Italienisch und 7 Prozent andere Sprachen.[1] Darüber hinaus leben laut Volkszählung inzwischen ca. 15.000 Rätoromanen in anderen Schweizer Kantonen.
Während die Schweizer Bundesregierung und der Kanton Graubünden sich intensiv um die Förderung des Rätoromanischen bemühen (s.u.) geht dennoch die Zahl der rätoromanischen Muttersprachler ständig zurück. Bei der Schweizer Volkszählung von 1990 gaben 66.356 Menschen Romanisch als regelmäßig gesprochene Sprache an, davon bezeichneten sie 39.632 als Hauptsprache. Im Jahre 2000 gaben nur noch 35.095 Romanisch als Hauptsprache an.[2]
2. Sprache
Die rätoromanischen Idiome in der Schweiz gehören zur Gruppe der romanischen Sprachen. Über ihre Entstehung aus dem Vulgärlatein → 3.09. Aufgrund der Abgeschiedenheit in den Rückzugsgebieten der Alpen Graubündens haben sich in der Vergangenheit viele örtliche Mundarten herausgebildet, die zum Teil erheblich voneinander abweichen. Von der Sprachwissenschaft werden sie in fünf Sprachvarianten eingeteilt, für die sich ab dem 16. Jahrhundert auch jeweils eigene Schriftnormen entwickelt haben (→ Geschichte). Diese schriftsprachlichen Normen täuschen allerdings darüber hinweg, dass im alltäglichen, umgangssprachlichen Gebrauch oft erhebliche Unterschiede bestehen, die sich aus der geografischen Lage und den geschichtlichen und kulturellen Einflüssen ergeben haben. Z. B. ist im Norden ein starker deutscher/alemannischer Einfluss festzustellen, im Süden (Engadin) hingegen ein italienischer. Einen Überblick über die 5 Sprach-Varietäten, ihre geografische Lage und die Zahl der Sprecher geben die nachfolgende Tabelle[3] und 2 Karten:
Tabelle 1: Übersicht über die rätoromanischen Sprach-Varietäten in Graubünden / CH
Lage - Gebiet | Name der rätorom. Sprach-Variante | Sprecher
1990 bestbeherrschte Sprache |
Gesamt- bevölkerung dieses Gebiets |
Vorderrheintal
Bündner Oberland |
Surselvisch = sursilvan |
14.614 | 30.376 |
Hinterrheintal | Sutselvisch = sutsilvan |
778 | 6.494 |
Oberhalbstein Albulatal |
Surmeirisch = surmiran |
2.461 | 6.275 |
Oberengadin | Puter = puter | 2.798 | 15.879 |
Unterengadin Münstertal* |
Vallader = vallader* |
5.243 | 7.756 |
* Im Münstertal wird der romanische Dialekt Jauer gesprochen, der jedoch keine schriftsprachliche Tradition hat. In den Münstertaler Schulen wurde bis zur Einführung von Rumantsch Grischun in Unterengadinisch (Vallader) unterrichtet. Putér und Vallader werden von den Romanen auch als Rumantsch Ladin zusammengefasst und in der Hymne Chara lingua da la mamma besungen („chara lingua da la mamma, tü sonor rumantsch ladin...“).
Aus der Tabelle ergibt sich, dass die rätoromanischen Idiome in den Bereichen Vorderrhein/Bündner Oberland (Surselvisch) und Unterengadin/Münstertal (Vallader) am vitalsten sind, während im Hinterrheintal (Sutsilvan) und im Oberengadin (Puter) die größte Gefährdung für den Fortbestand der regionalen rätoromanischen Sprache besteht.
Die
Zersplitterung stellt ein großes Problem für den Bestand des
Rätoromanischen dar. In der Vergangenheit wurden viele Versuche
unternommen, eine einheitliche Schriftsprache für alle Rätoromanen
der Schweiz zu entwickeln, dies scheiterte aber stets daran, dass
eine Variante bevorzugt wurde. Schließlich hat der rätoromanische
Dachverband Lia Rumantscha (s.u.) erkannt, dass in einer Zeit
zunehmender Mobilität und Vernetzung mit digitalen Medien eine
Einheitssprache für das Überleben des Rätoromanischen eine
dringende Notwendigkeit war. Er beauftragte 1981 den nichtromanischen
Linguisten Heinrich Schmidt (1921 –1999) mit dieser
Aufgabe und Heinrich Schmidt schuf in relativ kurzer Zeit das
Rumantsch Grischun. Heute kann man sein Werk als Erfolgsgeschichte
verbuchen. Während bis Mitte der 2000er Jahre die Schulbücher im
Kanton Graubünden in Deutsch, Italienisch und in allen 5
rätoromanischen Schriftdialekten erschienen, werden sie seit 2005
erstmals nur noch in drei Sprachen herausgegeben, neben Deutsch und
Italienisch auch in Rumantsch Grischun.
Geschichte
Die Geschichte der Rätoromanen
in der heutigen Schweiz habe ich in der folgenden Übersicht nach
wichtigen Daten der Geschichte zusammengefasst.[4]
Bronzezeit
bis zur Zeitenwende:
Das Volk der Räter
bewohnt die Alpentäler (→3.09), kommt früh mit den Illyrern in
Kontakt und hat bis zur Zeitenwende viele keltische Einflüsse
aufgenommen.
15 v.
Chr.
Die Römer unter Drusus und Tiberius
unterwerfen die rätischen Stämme der Alpen (→3.09). In der Folge
entsteht die römische Provinz Raetia prima, der neben dem heutigen
Graubünden und großen Teilen der heutigen Schweiz auch Teile
Tirols und Vorarlbergs angehören. Verwaltungssitz ist Chur (Curia
Raetorum)
ca.
100 – ca. 450
Die Gebiete der Raetia prima werden
romanisiert, es entsteht ein rätolatein oder vulgärlatein, aus dem
in der Folge die rätoromanischen Dialekte entstehen. Nach der
konstantinischen Wende erfolgt schrittweise eine Christianisierung
des Gebiets.
ca. 470 -
600
Eindringen der Alemannen in die heutige Schweiz
und der Bajuwaren über den Brenner nach Süden. Dadurch wird die
Verbindung der rätoromanischen Gebiete in der heutigen Zentral- und
Ostschweiz zu den romanischen Sprachen im Westen (Gallien) und Osten
(Südtirol, Friaul) unterbrochen. Schließlich geht auch die
Verbindung nach Süden hin durch das Vordringen der Langobarden (ab
568) verloren. Um 536/537 fiel Rätien (das Gebiet der ehemaligen
Provinz Raetia prima)
an das Fränkische Reichca. 800 Karl der Große teilt Rätien in mehrere Gaue auf, darunter Churrätien, das sich mit dem heutigen Graubünden + Vorarlberg deckt. Beginn des germanischen Einflusses.
843
Das Bistum Chur orientiert sich nach Norden,
trennt sich von der Erzdiözese Mailand und wird in das
Erzbistum Mainz eingegliedert.
916
Vereinigung des Berglands der ehemaligen
Provinz Raetia prima mit dem erneuerten Herzogtum Alemannien, Beginn
einer starken germanischen Einflussnahme auf dieses Gebiet.
ab
ca.1200
Einwanderung von Walsern und Kolonisierung z.
T. gering bewohnter Berggebiete. Sie leiten die weitere
Germanisierung Graubündens ein. Sie erhielten zudem als ins Land
gerufener Siedler gewisse Sonderrechte, die zu einer neuen
Bewusstseinsbildung führten.
1367
Beginn eines eigenen politischen Bewusstseins
mit der Gründung von Volksbünden. 1367 wurde der Gotteshausbund
gebildet (Chur, Engadin, Domleschg, Oberhalbstein, Bergell), 1395
folgt der Graue Bund (Oberrheintal) und 1436 der Zehngerichtebund.
Diese Bünde fanden sich ab 1450 zu einem eigenständigen staatlichen
Gebilde zusammen (Freistaat der Drei Bünde). Die Bünde wurden durch
verschiedene Verträge (seit 1497) gleichberechtigter Partner der
schweizerischen Eidgenossenschaft (formell als Zugewandter Ort).
1464
Nach einem Großbrand wird Chur von
alemannischen Handwerkern wieder aufgebaut und danach fast
vollständig germanisiert. Chur, der bisherige Mittelpunkt geht für
das rätoromanische Sprachgebiet praktisch verloren.
1524
Engerer Zusammenschluss der drei Bünde durch
eine Bundesbrief. Das Deutsche wird zur Hauptkanzleisprache.
1525
-1699
Im 16./17. Jh. Verschriftlichung des
Romanischen, jedoch jeweils für die verschiedenen Idiome. Die
entscheidenden Impulse für die Schaffung einer
literarischen Sprache erfolgen durch die
Reformation und die katholische
Gegenreformation.
1794
Die Verfassung des rätischen Freistaats legt
vier
Amtssprachen fest: Deutsch, Italienisch, romanisch und ladinisch, d.
h. man behandelte die beiden wichtigsten Ausprägungen des
Rätoromanischen als verschiedene Sprachen. Während der europäischen
Wirren nach der französischen Revolution kann sich der Freistaat
zunächst neutral verhalten, als „Gegenleistung“ führt er auch
noch das französische als zusätzliche Amtssprache ein.
1803
Die bündnerischen Gebiete fielen 1797 an die
Cisalpinische Republik. 1799/1800 kam das verbliebene Gebiet als
Kanton Rätien zur Helvetischen Republik, 1803 als 15. Kanton
Graubünden zur Schweizerischen Eidgenossenschaft
1815 -
1899
Im 19. Jh. führen die verkehrstechnische
Erschließung der Bergregionen und der aufblühende Fremdenverkehr
zu einer Gefährdung des Romanischen. Die
Romanen betrachten ihre Sprache als
wirtschaftliches Hindernis. Verschiedene
Persönlichkeiten rufen die Romanen jedoch zur Verteidigung ihrer
Sprache auf. Diese Reaktion leitet
die sogenannte «Rätoromanische Renaissance» (Neubesinnung auf
die Werte der romanischen Sprache) ein.
1880
In der bündnerischen Verfassung werden
Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch als gleichberechtigte
Sprachen festgelegt. Das während der Napoleonischen Zeit eingeführte
Französisch wurde längst wieder fallen gelassen. In der
Modifizierung von 1892 heißt es: „Die drei Sprachen sind als
Landessprachen gewährleistet“. Das Rätoromanische wurde damit als
Verwaltungs-, Gerichts-, Schul- und Kirchensprache anerkannt.
1919
Gründung der Lia Rumantscha als
Dachorganisation aller romanischen Vereine. Tochtervereine der Lia
Rumantscha sind die regionalen romanischen Vereine Graubündens,
überregionale Vereine mit besonderen Zwecken und romanische Vereine
außerhalb Graubündens.
1925
erste Radiosendungen von Radio Rumantsch (RR)
in rätoromanischer Sprache. Im Laufe der Jahrzehnte hat der 1954
verstaatlichte Sender seine Sendezeit kontinuierlich erweitert. Seit
Februar 2008 sendet die Radiostation ein 24stündiges Programm aus.
1938
Volk und Stände der Schweiz anerkennen das
Romanische als «Nationalsprache» der Schweiz.
1963
erste Fernseh-Sendung in rätoromanischer
Sprache. Heute sendet Televisiun Rumantscha (TvR) seine Beiträge in
rätoromanischer Sprache über das Schweizer
Fernsehen SF 1,
so den Telesguard
(Tagesschau) von Montag bis Samstag und die Cuntrasts
am Sonntag. Die Sendungen werden jeweils auf Deutsch
über den Teletext
untertitelt.
1980-1981
Die Lia Rumantscha erarbeitet ein umfangreiches
neues Konzept zur Erhaltung und Förderung der
romanischen Sprache und Kultur.
1982
Prof. Heinrich Schmid (1921 – 1999) von der
Universität Zürich erarbeitet die «Richtlinien für
die Gestaltung einer gesamtbündnerromanischen Schriftsprache, das
Rumantsch Grischun».
1996
Das Romanische wird zur Teilamtssprache des
Schweiz erhoben. Die Regierung
Graubündens beschließt, das Rumantsch Grischun zur offiziellen
Amtssprache zu erheben.
2005
wurden die Schulbücher im Kanton Graubünden
erstmals nur noch in drei Sprachen herausgegeben. Bis Mitte der
2000er Jahre erschienen diese in Deutsch und Italienisch, aber auch
jeweils noch in allen 5 rätoromanischen
Schriftdialekten. Heute wird nur noch
Rumantsch Grischun als Sprache der Schulbücher verwendet.
Zukunft der Rätoromanen / Bündnerromanen
Um die
Dreisprachigkeit als zentrales Merkmal Graubündens und seine
sprachliche Vielfalt zu erhalten, fördert der Kanton die
Minderheitensprachen Rätoromanisch und Italienisch in besonderer
Weise. Aufgrund dieser Zielsetzung entstand das Sprachengesetz von
2008.[5] Mit diesem Gesetz wird
der Gebrauch der drei kantonalen Amtssprachen Deutsch, Rätoromanisch
und Italienisch geregelt und es werden Maßnahmen festgelegt, mit
denen die kantonalen Minderheiten-Sprachen Rätoromanisch und
Italienisch gefördert werden sollen. Im Gesetz ist festgelegt, dass
Gemeinden mit einem Anteil von mindestens 40 Prozent von Angehörigen
einer angestammten Sprachgemeinschaft als einsprachige Gemeinden
gelten. In diesen ist die angestammte Sprache kommunale Amtssprache.
Gemeinden mit einem Anteil von mindestens 20 Prozent von Angehörigen
einer angestammten Sprachgemeinschaft gelten als mehrsprachige
Gemeinden. In diesen ist die angestammte Sprache neben der
Mehrheitsprache eine der kommunalen Amtssprachen. Für die Festlegung
des prozentualen Anteils einer Sprachgemeinschaft werden die
Ergebnisse der jeweils letzten eidgenössischen Volkszählung zu
Grunde gelegt. Auf dieser Basis werden der Gebrauch der Amtssprachen
bei Gericht und im Unterricht der Schulen festgelegt. Zusätzlich
wurden 2008 in einer Sprachenverordnung die verschiedene Bestimmungen
des Sprachengesetzes konkretisiert, z.B. der Gebrauch der
Amtssprachen durch die kantonalen Behörden und die Festlegung
notwendiger Übersetzungen im amtlichen Bereich.
Die Lia Rumantscha
als Dachorganisation aller rätoromanischen Vereine hat inzwischen
ihre Zielsetzung geändert. Lange Zeit hatte man die Zweisprachigkeit
Romanisch-Deutsch als Gefahr empfunden, zum einen für die
Reinheit der Muttersprache Romanisch, zum anderen
als Zwischenstufe auf dem Weg der
Verdeutschung. Inzwischen liegt der Fokus
auf dem Gebrauch der romanischen Sprache in den Familien, auf
der Bildungspolitik, auf der Förderung der Zwei- und
Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens zwischen den verschiedenen
Sprachgemeinschaften des Kantons Graubündens. Sie sieht ihre
Aufgabe darin, das jahrhundertealte Nebeneinander
von Romanisch, Italienisch und Deutsch als
sinnvoll und kulturell bereichernd zu
propagieren.[6]
Diese Zielsetzung
ist realistisch an den Gegebenheiten der heutigen Vernetzung und der
wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung orientiert. Zusammen mit
einem guten Unterricht in der Muttersprache und Zweitsprache bietet
sie gute Chancen für einen langfristigen Bestand des
Rätoromanischen.
[3] erstellt
nach Angaben in
http://www.eurocomrom.de/compact/kurs/minigrischun.pdf
[4] Dabei
habe ich insbesondere folgende Quellen ausgewertet:
[6]http://www.liarumantscha.ch/sites/portraet/die_lia_rumantscha_auf_einen_blick.html
a)
Erwin Diekmann: „Das Rätoromanische in der Schweiz“ in
„Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“
b)
René Neuenschwander: Die rätoromanische Volksgruppe im Schweizer
Kanton Graubünden“ in „Handbuch der europäischen Volksgruppen“
ab S. 180
e)
http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCndnerromanisch
f) http://www.liarumantscha.ch/sites/portraet/die_lia_rumantscha_auf_
einen_blick.html
[5] http://www.gr.ch/DE/kanton/ueberblick/Seiten/Dreisprachigkeit.aspxf) http://www.liarumantscha.ch/sites/portraet/die_lia_rumantscha_auf_
einen_blick.html
[6]http://www.liarumantscha.ch/sites/portraet/die_lia_rumantscha_auf_einen_blick.html
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