3.201 Krimtataren




1. Vorwort – Einführung

Die Ereignisse in der Ukraine, beginnend im November 2013 mit den Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew haben bekanntlich dazu geführt, dass die Halbinsel Krim mit einer überwiegend russischen Bevölkerung sich in einem Referendum  für den Anschluss der Krim an die Russische Föderation entschieden hat. Man mag die Umstände dieser Abstimmung verurteilen, aber man kommt sicher nicht an der Feststellung vorbei, dass auch bei völlig demokratischen und mit neutralen Beobachtern durchgeführten Wahlen eine deutliche Mehrheit der Krim-Bevölkerung eine solche Entwicklung gewünscht hat. Hinzu kommt, dass die Krim seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis 1954 immer zu Russland gehörte und der Anschluss an die Ukraine durch den damaligen sowjetischen Parteichef Chruschtschow auch als Willkürakt zu betrachten ist.(Siehe …Geschichte)   Umso wichtiger erscheint mir jedoch das Anliegen, die besondere Situation der Krimtataren in diesem Konflikt darzustellen.
Die Minderheit  von knapp 300.000 Krimtataren steht hier zwischen den Fronten einer überwiegend russischen Bevölkerung und einer Minderheit von Ukrainern, die aber ebenfalls eher nach Russland hin orientiert sind und häufig auch russisch als ihre Muttersprache bezeichnen. So waren es im wesentlichen nur die Krimtataren, die sich aufgrund schlechter Erfahrungen mit der sowjetischen/russischen Regierung in der Geschichte der letzten Jahrhunderte entschieden für einen Verbleib der Krim bei der Ukraine aussprachen
.[1]

2. Name – Lage – Zahlen

Tataren ist die Sammelbezeichnung für eine große Anzahl von turksprachigen Völkern vor allem in Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjet-Union. Sie gehören wiederum zur großen Gruppe der Turkvölker.[2] Die wohl größte Tataren-Gruppe stellen die Wolga- oder Kasan-Tataren in der Föderationsrepublik Tatarstan der Russischen Föderation, die gegenüber anderen Föderationsrepubliken gewisse Sonderrechte genießt, die  In Artikel 61.2 der Verfassung von Tatarstan festgelegt sind. Die Krimtataren sind demgegenüber eine besondere turksprachige Ethnie, die näher mit den Türkeitürken verwandt sind, als mit den Wolga-Tataren. Sie sind – wie die meisten Turkvölker – muslimischen Glaubens.
Historisches Siedlungsgebiet der Krimtataren ist die Halbinsel Krim. Aus der Sprache der Tataren stammt auch das Wort "Krim", es bedeutet "Felsen" oder "Festung". Noch Anfang des 19. Jahrhunderts stellten sie dort die Sprach- und Bevölkerungs-Mehrheit. 1944 wurden nahezu alle Krimtataren auf Befehl Stalins wegen angeblicher Kollaboration mit der deutschen Armee in verschiedene Teilgebiete der Sowjet-Union – hauptsächlich nach Usbekistan - deportiert. Erst einem Teil der Deportierten bzw. deren Nachkommen ist inzwischen eine Rückkehr auf die Krim ermöglicht worden. Heute leben wieder fast 300.000 Krimtataren auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim und stellen dort ca. 12 % der Bevölkerung. 

Bild 1: Lage der Halbinsel Krim
        Bild 2: Ethnien auf der Krim                          
                                      
Weitere größere Gruppen der Krimtataren leben nach wie vor in Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und in der Russischen Föderation. (siehe auch unter Geschichte) Außerdem gibt es Minderheiten der Krimtataren  in der Türkei und anderen europäischen Staaten, in Amerika und Asien.[3]

3. Sprache

Bereits seit dem 13. Jahrhundert sind Turksprachen auf der Krim bekannt. Im 15. und 16. Jahrhundert fiel ein Küstenstreifen der Krim an das Osmanische Reich, wodurch die verschiedenen Turk-Dialekte der Krim besonders beeinflusst wurden. Daher hat die heutige krimtatarische Schriftsprache mehrere Wurzeln, einmal im eigentlichen Tatarischen, weshalb man sie historisch betrachtet zu den kiptschakischen (tatarischen) Sprachen rechnet, andererseits weist das Krimtatarische aufgrund historischer Verbindungen große Gemeinsamkeiten mit dem Türkei-Türkischen auf.  1928 wurde von den Krimtataren das türkische Alphabet mit lateinischen Schriftzeichen übernommen, das auf Anweisung Stalins 1938 durch ein angepasstes kyrillisches Alphabet ersetzt wurde. 1992/93 wurde Krimtatarisch wieder zur dritten Amtssprache der autonomen ukrainischen Krim erklärt, nachdem ihre Sprecher inzwischen wieder über 10 % der Bevölkerung ausmachten. Die 1998 vom Parlament der autonomen Krim-Republik verabschiedete Verfassung garantierte Ukrainisch, Russisch und Krimtatarisch als offizielle Sprachen. Und seit 2002 schreiben Krimtataren wieder mit einem lateinischen Alphabet, das gemeinsam von türkischen und krimtatarischen Studenten der Universität Istanbul entwickelt wurde. [4]  
Lediglich der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass sich Ukrainer auf der Krim auch in einem Minderheiten-Verhältnis zur russischen Bevölkerungsmehrheit befinden. denn die ukrainische Bevölkerungsgruppe stellt hier nur knapp 25 Prozent der Bewohner. Das öffentliche Leben ist weitestgehend russisch dominiert, und so bezeichnet selbst die Hälfte der Krim-Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache. In Simferopol sprechen 9 von 10 Ukrainern vor allem Russisch.[5]
Aber auch bei den Krimtataren hat die Geschichte der letzten Jahrzehnte Spuren hinterlassen. Viele – vor allem junge Krimtataren – sprechen nicht mehr die Sprache ihres Volkes. In der Schule wird russisch unterrichtet und auch die Alltagssprache ist russisch. So lernen heute junge Krimtataren / Tatarinnen wieder in Kursangeboten ihrer Jugendorganisation „Bizim Kirim“ (Unsere Krim) die Sprache ihrer Großeltern, denn sie wollen ihre Sprache als Identifikationsmerkmal sprechen können. „Ohne die eigene Sprache erwartet mein Volk die traurige Perspektive der Assimilation“, meint Abdulraman Egiz, Präsident von "Bizim Kirim“.[6]

4. Geschichte [7]

Von Krimtataren kann man etwa ab dem 14. Jahrhundert sprechen. Die Ethnie  bildete sich aus verschiedenen Turkvölkern, Resten der mongolischen Eroberer sowie den  auf der Krim angesiedelten byzantinischen und genuesischen Kolonien. Unter osmanischer Oberhoheit bildete sich das sogenannte Krimkhanat als ein bedeutender Machtfaktor - mit einem blühendem Handel - zwischen den Osmanen und den Russen (bzw. Polen/Litauen) heraus. Diese Epoche endete 1783 nach der Eroberung des Krimkhanats durch Russland unter Katharina der Großen. Sie proklamierte am 8. April 1783 die Krim „von nun an und für alle Zeiten“ als russisch. Danach verließen viele Krimtataren ihre Heimat und zogen ins Osmanische Reich, wo sie in Westanatolien, Bessarabien und Bulgarien angesiedelt wurden. Parallel dazu wurden Russen auf der Krim angesiedelt, aber auch Griechen, Bulgaren Balten und vor allem deutsche Siedler wurden unter Katharina ins Land gerufen (die späteren Krim-Deutschen).  Ein weiterer Exodus folgte nach dem Krimkrieg und den Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich (1856 und 1877/78), so dass die Krimtataren Ende des 19. Jahrhunderts nur noch etwa die Hälfte der Bevölkerung auf der Krim ausmachten.  Dennoch entwickelte sich parallel zu dieser Entwicklung auch eine krimtatarische nationale Identität, an deren Entstehen vor allem der Schriftsteller  Ismail Gaspirali (Gasprinsky, 1851–1914) großen Anteil hatte.
Nach der russischen Oktoberrevolution 1917  gab es kurzfristig eine unabhängige krimtatarische Republik, jedoch 1920 eroberte die Rote Armee das Gebiet und die Krim wurde zur autonomen sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR), die von der Ukrainischen Sowjetrepublik verwaltungstechnisch getrennt blieb. Im 2. Weltkrieg wurde die Krim von 1942 – 1944 von der Deutschen Wehrmacht besetzt, wobei viele Krimtataren die Deutschen als Befreier sahen. Nach der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee wurden – wie oben schon angeführt – die Krimtataren wegen – teils berechtigter, teils unterstellter – Kollaboration mit den Deutschen in verschiedene zentralasiatische Gebiete der Sowjet-Union, vor allem nach Usbekistan, deportiert. Das gleiche Schicksal hatten auch die Krim-Deutschen. Gleichzeitig hob Stalin die Autonomie der Krim auf. Auch nach Ende des Krieges verblieb die Krim zunächst als Verwaltungsbezirk innerhalb der Russischen Föderalen Sowjetrepublik. 1954 wurde auf Veranlassung der damaligen Sowjetführung unter dem Ukrainer Nikita Chruschtschow die Krim an die Ukraine angegliedert, wobei damals keiner der Sowjet-Führer daran dachte, dass die Sowjet-Union einmal auseinander brechen könnte.
1967 wurden die Krimtataren offiziell rehabilitiert und vom Vorwurf der kollektiven Kollaboration freigesprochen, jedoch wurde ihnen im Gegensatz zu anderen deportierten Volksgruppen (wie den Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken u. a.) nicht erlaubt, in ihre angestammten Gebiete zurückzukehren. Dennoch zogen einige Krimtataren in den 1980er Jahren in die Krim zurück, was von staatlicher Seite aber als illegal angesehen und auch behindert wurde.
Nach Auflösung der Sowjet-Union wurde die Ukraine 1991 ein selbständiger Staat. Bei dem damals durchgeführten Referendum im ‚Dezember 1991 stimmten nur 54 % der Wähler auf der Krim mit „Ja“ für die Unabhängigkeit der Ukraine. Nach längeren Auseinandersetzungen wurde der Krim  schließlich der Status einer Autonomen Republik innerhalb des ukrainischen Staates zugestanden, mit besonderen Hoheitsrechten auf dem Gebiet der Finanzen, der Verwaltung und der Rechtsprechung. Dieses Sonderstatut galt allerdings nicht für die Stadt Sewastopol, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Sie unterstand bis zum jetzigen Anschluss an Russland direkt der Kiewer Regierung. Vorher war Sewastopol ein ständiger Zankapfel zwischen der Ukraine und Russland. Erst 1997 wurde ein Vertrag geschlossen, der den Verbleib der russischen Marine bis 2017 garantierte. Dieser Vertrag wurde 2010 unter dem russlandfreundlichen Präsidenten Janukowytsch bis zum Jahr 2042 verlängert.

5. Nicht willkommene Rückkehrer – die Krimtataren und ihre Probleme

Als Kompensation für die Deportation durch Stalin hatte die ukrainische Regierung den Krimtataren neue Grundstücke und Geld zugesprochen, jedoch nicht in genügendem Umfang und vor allem nicht das frühere Eigentum. Die Vergabe der Grundstücke gestaltete sich aber als sehr langwierig, die Formalitäten zur Gebietsübertragung als kompliziert. Noch heute leben viele der zurückgekehrten Krimtataren in provisorischen Siedlungen. Bereits 1991 hatte sich ein Organ der nationalen Selbstverwaltung der Krimtataren („Medschlis“) gegründet, zu deren Vorsitzenden Mustafa Džemilev gewählt wurde.(siehe aktuelle Situation). Die krimtatarische Selbstverwaltung bemüht sich um die Wiederbelebung der Sprache und die Restaurierung der weitgehend zerstörten muslimischen Kultur-Denkmäler. Dabei wurden sie in der Vergangenheit nur unvollkommen und zum Teil unwillig vom ukrainischen Staat unterstützt und Entschädigungen für die erlittene Deportation gab es nur sehr unzureichend. Obwohl ihnen nach ukrainischen Recht Land für eine Zentralmoschee zustand, mussten sie 10 Jahre kämpfen, bis man ihnen 2011 ein Grundstück im Außenbezirk von Simferopol zusprach. Dabei sehen sich die Krimtataren immer wieder Übergriffen von russischer Seite auf krimtatarische Einrichtungen ausgesetzt. Vor allem heilige Stätten, wie Friedhöfe und Moscheen, waren Ziele der Zerstörungen.

6. Heutige Situation – mögliche Entwicklungen - Perspektiven

Ich möchte zunächst auf die umfangreichen Veröffentlichungen in der aktuellen Presse, in Funk und Fernsehen verweisen, die die Entwicklung der Ukraine gesamt und der Krim im besonderen zum Inhalt haben.[8]  In der westlichen Presse wurde der Konflikt sehr einseitig dargestellt – ohne die Interessen Russlands und vor allem ohne den vorstehend geschilderten historischen Hintergrund zu bedenken. Deshalb war die Reaktion Russlands auf die Vorgänge in der Ukraine bei realistischer Betrachtung der geopolitischen Lage durchaus zu erwarten. Für Russland ist die Krim nicht nur militärisch, sondern auch emotional von besonderer Bedeutung, zumal man auf die dortige russische Bevölkerungsmehrheit verweisen kann. Im Übrigen ist der Streit um die Krim nicht erst seit 2014 aktuell, sondern ist zwischen Moskau und Kiew eigentlich seit dem Auseinanderbrechen der Sowjet-Union ein Dauerbrenner, der nur vom Westen nicht beachtet wurde.[9]
Andererseits ist die Situation der Krimtataren auch viel zu wenig beachtet worden. Dass sich diese – aufgrund historischer Erfahrungen – einer Eingliederung in russisches Hoheitsgebiet massiv widersetzen, ist auch gut zu verstehen. Hinzu kommen bereits seit Jahren prorussische Übergriffe auf Krimtataren und ihre Einrichtungen.[10] Deshalb sahen die Krimtataren und ihr Anführer Džemilev im Verbleib der Krim bei der Ukraine das geringere Übel und unterstützen mehr noch als die örtlichen Ukrainer die prowestlichen Kräfte in Kiew.[11] 
Džemilev rief daher im März 2014 offen zu einem Boykott des Anschluss-Referendums auf.

Nach der Volksabstimmung auf der Krim am 16. 3. 2014 muss man realistisch davon ausgehen, dass sich der Anschluss der Krim an Russland nicht mehr rückgängig machen lässt. Anscheinend verfolgt der Kreml nun gegenüber den Krimtataren eine Doppelstrategie. Einerseits hat man gegen den langjährigen Anführer der Krimtataren Mustafa Dschemilew ein fünfjähriges Einreiseverbot nach Russland und damit auch zurück auf die Krim verhängt, wohl insbesondere wegen seines außergewöhnlich engagierten Widerstands gegen den Anschluss der Krim an Russland. Andererseits hat Präsident Putin in einem Erlass vom 21. 4. 2014  die Depotation der Krimtataren (und auch anderer Völker wie z. B. der Russlanddeutschen) als gesetzwidrig bezeichnet und diese Völker damit offiziell rehabilitiert. Neben diesem Eingeständnis der Unrechtmäßigkeit der Deportationen hat er aber auch die Einrichtung nationaler Kulturautonomien festgelegt, was  für die Krimtataren beispielsweise das Recht auf Schulbildung in ihrer Muttersprache einschließt. Dies sind eher positive Signale.[12]
Ob und wie sie umgesetzt werden, sollte der Westen nicht aus den Augen verlieren. Im Gegensatz zum bisherigen Vorgehen  sollten alle Beteiligten - also auch die EU und die deutsche Bundesregierung - die historischen und heutigen Fakten anerkennen und darauf hinwirken, dass die Rechte der kleinen Minderheit der Krimtataren gesichert werden. Dies geschieht am besten durch ein international abgesichertes Minderheitenstatut (ähnlich dem Südtirol-Paket). Bei einem irgendwann notwendigen Kompromiss zwischen der EU und Russland sollte dies nicht vergessen werden!
.......

In der Zeitschrift "pogrom" der Gesellschaft für bedrohte Völker erschien in der Ausgabe 2-3/2014 ein Artikel von
Dr. Mieste Hotopp-Riecke "Krimtataren wieder Verlierer der Geschichte". Darin wird m. E. zum einen sehr einseitig gegen den Anschluss der Krim an Russland argumentiert und zum anderen aus meiner Sicht keine realistische Perspektive für die Krimtataren angegeben. 
Deshalb habe ich am 21. 11. 2014 einen Leserbrief an die Redaktion von "pogrom" gesandt mit der Bitte, in dieser Zeitschrift auch meine etwas andere Sicht der Situation auf der Krim darzustellen. Nachdem in der neuesten Ausgabe von "pogrom" keine derartige Veröffentlichung erfolgte und ich auch keine Reaktion auf meine Stellungnahme erhielt, möchte ich nachstehend meine Meinung  veröffentlichen:   


Gesellschaft für bedrohte Völker
c/o Redaktion „bedrohte Völker – pogrom“

Leserbrief zum Artikel „Krimtataren wieder Verlierer der Geschichte“ in
pogrom 281-282_2-3/2014

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Dr. Mieste Hotopp-Riecke,

die Anliegen bedrohter Völker und nationaler Minderheiten verfolge ich seit vielen Jahren mit großem Interesse. Nicht zuletzt deshalb bin ich auch seit vielen Jahren Mitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker und eifriger Leser von pogrom.
Bitte gestatten Sie mir daher, dass ich zu dem obigen Artikel einige kritische Anmerkungen mache. Auch ich bin der Meinung, dass die Krimtataren im Moment wieder als die Verlierer der Geschichte dastehen. Um diese Situation aber nicht weiter zu verfestigen, ist es notwendig, den Tatsachen ins Auge zu sehen und auch seitens der Krimtataren eine pragmatische Politik zu verfolgen. In der ZDF-Fernsehsendung mit Maybrit Illner vom 20. 11. 2014 (siehe dazu z. B. http://www.spiegel.de/kultur/tv/maybrit-illner-diskussion-ueber-wladimir-putin-und-krim-krise-a-1004171.html) brachte Egon Bahr, der frühere enge Berater der Kanzler Brand und Schmidt in Osteuropa-Fragen, einen überraschenden aber m. E. zutreffenden Vergleich:
Wie das Beispiel der völkerrechtlich von Bonn nie anerkannten DDR zeige, lasse sich ein Zustand auch ohne Völkerrecht über lange Zeit akzeptieren…Man müsse nur einen langen Atem haben und könne dann "weiter ohne schlechtes Gewissen Krim-Sekt trinken."
Fest stehe ohnehin, dass es Sicherheit ohne oder gegen Russland nicht geben könne, was ja außer Kissinger, Schmidt und Genscher selbst Kohl sage - und Schröder sowieso. Der Westen brauche Russland nun mal, auch hinsichtlich des islamistischen Terrors.  Krieg werde es wegen der derzeitigen Ost-West-Krise sowieso nicht geben…“
Soweit Egon Bahr laut spiegel-online. Einig sind sich ja ohnehin alle westlichen Politiker, dass es wegen der Krim oder der Ost-Ukraine kein militärisches Eingreifen des Westens geben wird. Man belässt es bei sehr umstrittenen Sanktionen.
Bei einer vorurteilsfreien und pragmatischen Betrachtung der Lage auf der Krim und der augenblicklichen Situation der Krimtataren muss man m. E. aber auch auf folgende Fakten hinweisen:
  1. Auch bei einer völlig demokratisch durchgeführten Wahl auf der Krim gibt es wohl keinen Zweifel, dass eine eindeutige Mehrheit der dortigen Bevölkerung sich für den Anschluss an Russland entscheidet. Daher forderte jüngst auch der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg, Platzeck, eine Legalisierung des Krim-Anschlusses an Russland.
  2. Die Angliederung der Krim im Jahre 1954 unter der Regie von Nikita Chruschtschow war auch ein Willkürakt, wobei damals kein Sowjet-Führer und auch kein russischer Bewohner der Krim daran denken konnte, dass die Sowjet-Union einmal auseinanderbricht und die Krim dann zu einer selbständigen Ukraine gehört.
  3. Die verschiedenen ukrainischen Regierungen seit 1991 haben sich auch nicht dadurch hervorgetan, dass sie die rückkehrenden Krimtataren besonders gut behandelt hätten. In mehreren Artikeln auch in pogrom wurde darauf hingewiesen, dass man die Wiedereingliederung der Krimtataren, ihre Ansiedlung, die Gewährung der ukrainischen Staatsbürgerschaft, die Förderung muttersprachlichen Unterrichts, den Schutz vor Übergriffen u.v.a. sehr restriktiv, verzögernd, wenn nicht sogar ablehnend behandelt hat, auch von den angeblich demokratischen und westlich orientierten Politikern und Regierungen. (siehe z. B. pogrom 199/1998, 232/2005, 244-45/2007, 254/2009, 271/2012 u. a.)
  4. Angesichts der geschichtlichen Erfahrungen der Krimtataren ist es zwar verständlich, dass sie einer Wiedereingliederung der Krim nach Russland kritisch oder ablehnend gegenüberstehen. Ob es bei realistischer Betrachtung der Lage seitens der Führung der Krimtataren unter Mustafa Džemilev aber sinnvoll und zielführend war, sich so massiv auf die Seite der ukrainischen Führung zu stellen, möchte ich sehr bezweifeln. Leider hat Džemilev diese Haltung bereits mit  dem verhängten Einreiseverbot bezahlen müssen.
  5. Ich frage daher, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, Wladimir Putin und die russische Führung beim Wort zu nehmen und die Rechte der Krimtataren dort massiv einzufordern. Schließlich hat Putin mit seinem Erlass vom 21. 4. 2014 Krimtataren und Krimdeutsche rehabilitiert, eine leichtere Erwerbung der russischen Staatsbürgerschaft zugesichert und die Einrichtung nationaler Kulturautonomie festgelegt, was für die Krimtataren beispielsweise das Recht auf Schulbildung in ihrer Muttersprache einschließt. Es verwundert mich daher nicht, wenn pragmatisch denkende Krimtataren nun eine russlandfreundliche Organisation „Krim Birligi“ gegründet haben, um nicht völlig ins Abseits zu geraten. Man mag diese Organisation als Kriegsgewinnler oder Kollaborateure bezeichnen, aber ist es ihren Anhängern zu verdenken, dass sie - wie Egon Bahr wohl zutreffend prophezeit – nicht erst in 40 Jahren ihren Frieden mit der Realität machen wollen. Politik ist schließlich immer nur die Kunst des Möglichen, nicht des Wünschbaren oder gar Utopischen. Mustafa Džemilev und die Verantwortlichen der Medschlis sollten daher nicht weiter abseits stehen, sondern sich auch für die Krimtataren unter den realen Bedingungen einsetzen. Bei einem solchen Signal würde sicher auch der Einreisestopp aufgehoben und eine Spaltung des krimtatarischen Volkes vermieden.
  6. Ich vermisse leider bei unserer Bundesregierung – wie auch den übrigen Regierungen des Westens – dass sie in vorgenannten Sinne Druck auf Russland ausübt, und die Gewährung und Einhaltung der Minderheitenrechte nicht nur für Krimtataren von Russland einfordert. Hätte man seitens des Westens rechtzeitig auch Druck auf die ukrainische Regierung ausgeübt, das in vielerlei Hinsicht gespaltene Land in eine echte Föderation aufzugliedern, wäre die Abspaltung der Krim und der Konflikt um die Ostukraine vielleicht noch vermeidbar gewesen. Jedenfalls kann man die Herzen der russisch orientierten Bevölkerung nicht mit kriegerischen Maßnahmen gewinnen. Ein Bundesstaat nach deutschem, belgischem oder Schweizer Vorbild ist   m. E. die einzige Chance, die Einheit der Ukraine zu erhalten und das Land dauerhaft zu befrieden. Zumindest für die Ostukraine – aber auch viele andere Gebiete im Süden und Westen (Transkarpatien) ist es dazu nicht zu spät.

Die Lage in der Ukraine und auf der Krim werde ich weiter kritisch verfolgen und hoffe, dass Sie evtl. in pogrom auch diese etwas andere Sicht einmal darstellen.

Mit freundlichen Grüßen

Josef Heckerott 



 

 

[1]  Eine Darstellung der gesamten Ukraine- und Krim-Krise findet man im Internet u. a. unter http://www.spiegel.de/thema/ukraine/  bzw. http://www.spiegel.de/thema/krim_krise/

[2] Eine Übersichtsliste der Turkvölker findet man unter http://de.wikipedia.org/wiki/Turkvölker
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Krimtatarische_Sprache
[6] http://www.dw.de/mit-eigener-schrift-in-die-zukunft-krimtatarisch/a-4602103
[7] Erstellt unter Verwendung vor allem nachstehender Unterlagen: http://eeo.uni-klu.ac.at/index.php?title=Krimtataren , http://de.wikipedia.org/wiki/Krim - wertvolle Hinweise gibt auch der bereits unter Anmerkung 5 benannte informative Reisebericht (ZIS-Studienarbeit) von Veit Kühne von 1996 – auch wenn er die spätere Entwicklung nicht berücksichtigen kann. Er enthält vor allem auch Hinweise zu der deutschen Volksgruppe auf der Krim, die ein ähnliches Schicksal wie die Krimtataren erleiden mussten.
[8] Siehe dazu u. a. Spiegel online v. 26. Februar 2014 und weitere Artikel (aufgelistet am Ende des Artikels), http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/krim-krise-die-angst-vor-der-spaltung-12827928.html und weitere, http://www.tagesschau.de/ausland/krim-hintergrund100.html und weitere
[10] http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/154461/dokumentation-konflikt-auf-der-krim
[11] http://www.tagesspiegel.de/politik/krisenherd-ukraine-wem-gehoert-die-krim/9563912.html
[12]
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/krim-putin-rehabilitiert-deutsche-und-tataren-12903836.html  und http://www.mdz-moskau.eu (mdz = Moskauer Deutsche Zeitung) vom. 24.4.2014

1 Kommentar: