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2.21.3 Polen in Deutschland - Ruhrpolen



Vorwort - Einleitung

„Wir haben die Ruhrpolen verdaut, also werden wir auch die Gastarbeiter verdauen.“ So soll sich  Ende der 1970er-Jahre der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt angesichts des wachsenden Zustroms von Gastarbeitern zum Problem der Migration geäußert haben. Tatsächlich trifft man in Deutschland heute mit Blick auf unsere türkischen Mitbewohner häufig auf die Meinung, dass die zwischen 1870 und 1918 ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen Zuwanderer  doch ein Musterbeispiel einer gelungenen Integration seien.  Um das Ergebnis meiner Recherchen vorweg zu nehmen muss ich leider feststellen, dass eine solche Meinung mit der geschichtlichen Realität nichts gemein hat und man sich mit dem Thema „Ruhrpolen“ intensiver und vor allem differenzierter befassen muss. Tatsächlich muss man beim Thema „Polen in Deutschland“ drei völlig unterschiedliche geschichtliche Perioden betrachten:

A - Die Zeit zwischen 1870 und 1918 – die Zeit der Zuwanderung von  
      Bergbau- und Industriearbeitern in das industriell stark wachsende
      Ruhrgebiet (Kapitel 1 – 4)
     B - Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen 1918 -  1939 (Kapitel 5)
C - Die Zeit nach 1945 bzw. 1950 bis heute (Kapitel 6)

Denn beim Vergleich der Situation der „Ruhrpolen“, die vor dem 1. Weltkrieg ins Ruhrgebiet zogen, mit den  Zuwanderern aus Polen, die nach dem 2. Weltkrieg und vor allem nach der Wendezeit des Jahres 1989 nach Deutschland kamen, ergeben sich erhebliche Differenzen. Unterschiedlicher hinsichtlich Integration und Assimilation kann das Verhalten einer Volksgruppe wohl kaum sein, die – zwar zeitlich versetzt - aus dem gleichen Herkunftsland in ein Nachbarland eingewanderte. Aber dazu später mehr.

Übersicht

Abschnitt A (Kapitel 1 - 4): 
Arbeits-Migration von Polen und slawisch-stämmigen ins  Ruhrgebiet 1870 - 1918
1.0 Die Entwicklungs- und Migrationsgeschichte des Ruhrgebiets
1.1  Geschichtliche Entwicklung des Ruhrgebiets
1.2  Arbeitskräftemangel im Ruhrgebiet - Anwerbung von Arbeitern in den deutsche Ostprovinzen
1.3  Zuwanderer aus den deutschen Ostprovinzen und dem polnischen Kulturkreis - Wer waren die Zuwanderer?
1.4 Kurzer Abriss der  polnischen Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert
1.5 Sprachen und religiöse Bekenntnisse der ostdeutschen Zuwanderer
      1.51 Ostpreußen
      1.52 Westpreußen
      1.53 Posen
      1.54  Schlesien
1.6 Resümee Vielfalt der Zuwanderer bis zum 1. Weltkrieg
2.0 Politisches und kirchliches Umfeld der polnischsprachigen
      Migranten des 19. Jahrhunderts
2.1 Preußisch-deutsche Germanisierungs-Politik
2.2 Kulturkampf Bismarcks
2.3 Katholische Kirche im Ruhrgebiet
2.4 Kampf der Ruhrgebiets-Polen um polnische Seelsorger und die
      Sonntagsmesse in polnischer Sprache
2.5 Gründung und Tätigkeit katholisch-polnischer Vereine und Organisationen
2.6 Bottrop als Beispiel für den Kampf der Polen um polnisch-sprachige
      Seelsorge
2.7 Der Kampf der Polen um polnisch-sprachige Seelsorge im Ruhrgebiet –
      eine Bilanz gegen Ende des 1. Weltkriegs
2.8 Die Sondersituation der Masuren 
3.0 Ausweitung der polnischen Aktivitäten im Ruhrgebiet –
      Gründung kirchlich nicht gebundener Organisationen
3.1 Polnisch-sprachige Tageszeitung „Wiarus Polski“
3.2 Gründung polnischer Sokol-Turnvereine
3.3 Polnische Chorbewegung
3.4 Der Bund der Polen in Deutschland
3.5 Die polnischen Gewerkschaft ZZP
3.6 Der polnische Querschlag in Bochum  
3.7 Polnische Mittelschicht im Ruhrgebiet
3.8 Politische Aktivitäten
3.9 Polnische Frauen- und Jugend-Organisationen
4.0 Fazit für die Zeit bis zum Ende des 1. Weltkriegs
4.1 Vorurteile und Konflikte
4.2 Polnisch an deutschen Schulen und in der Öffentlichkeit
4.3 Resümee

Abschnitt B (Kapitel 5): Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen 1918 -  1939
5.1 Der 1. Weltkrieg und seine Folgen – eine „Wende“ für die Ruhrpolen
5.2 Veränderte Situation für die Zurückgebliebenen
5.3 Rückgang der Mitgliederzahlen und Aktivitäten bei Vereinen und
      Gewerkschaften
      5.31 Sokól-Turnvereine
      5.32 Polnische Gewerkschaft  ZZP
      5.33 Bund der Polen in Deutschland                 
5.4 Namensänderungen - eine Folge der Veränderungen
5.5 Zwei hartnäckige Legenden
      5.51 Die Ruhrgebietssprache
      5.52 Schalke 04 – ein Polacken-Verein?
5.6 Fazit für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen

Abschnitt C (Kapitel 6): Polen in Deutschland nach 1945
6.0 Einleitung – Überleitung
6.1 Die Nachkriegsjahre bis 1950
      6.11 Flüchtlinge und Vertriebene
      6.12 Displaced Persons  (DPs)
6.2 Die Zeit von 1950 bis zur Wende 1989/1990
      6.21 Autochthone, Spätaussiedler, Flüchtlinge, Emigranten
      6.22 Wiederstand gegen Stalinismus und Volksdemokratie
      6.23 Entspannungspolitik und neue Ausreisewelle
      6.24 Eingliederungspraxis bei Spätaussiedlern
6.3 Heutige Situation der Polen in Deutschland
       6,31 Zahlen und Identitäten                                                                              
       6.32 Polnische Zuwanderer gut integriert
       6.33 Bund der Polen in Deutschland
       6.34  andere polnische Organisationen
6.4  Fazit zum Abschnitt C


Abschnitt 1 - 4: 
Arbeits-Migration von Polen und slawisch-stämmigen ins  Ruhrgebiet 1870 - 1918

1.1 Geschichtliche Entwicklung des Ruhrgebiets

Der Sage nach fand ein Junge in der Gegend von Witten, Sprockhövel oder Wetter beim Schweinehüten glühende schwarze Steine in einer Feuerstelle. Hier wurde bereits im Mittelalter Kohle in einfachen Grabelöchern (sog. Pingen) abgebaut. Die Schwerpunkte dieses frühen Steinkohlenbergbaues lagen im Raum Witten-Sprockhövel, Haßlinghausen, wo die Kohleflöze bis an die Tagesoberfläche reichten.

Mit der Inbetriebnahme der St. Antony-Hütte in Oberhausen 1756 war ein wichtiger erster Schritt in Richtung Industrie des Ruhrgebiets gemacht worden, es war aber noch nicht die flächendeckende industrielle  Revolution. Erst als unter der Regie von Franz Haniel im Jahr 1834 das Durchteufen der Mergelschicht auf der Zeche Franz in Essen-Borbeck gelang,  kann man von der  „Geburtsstunde“ für die Industrialisierung im Revier sprechen. Die Mergeldecke ist eine ca. 100 m dicke Schicht in der Erde, unter der die ertragreiche, verkokbare Fettkohle lagert. Diese Fettkohle ist Voraussetzung für die Koksherstellung, die wiederum unverzichtbar für die Herstellung von Roheisen – und somit auch von Stahl – ist. Hinzu kam die Entwicklung der Dampfmaschinen, des Kokshochofens und die Erschließung des Ruhrgebiets durch die Eisenbahn, was ab ca. 1850 die flächendeckende Industriealisierung des Ruhrgebiets in Gang setzte.
 


Bild 01: „Industrialisierung im Ruhrgebiet (Quelle:ARD-Fotogalerie)

Bis dahin war das Ruhrgebiet weitgehend ländlich geprägt. Zur Standortbestimmung muss man 4 Entwicklungszonen betrachten, die sich von Süd nach Nord ausdehnten:


Bild 02: Das Ruhrgebiet – Entwicklungszonen

Die Ruhrzone (I) -   Die älteste Kohleabbauzone (Werden, Steele, Witten, Wetter) war von der industriellen Entwicklung zunächst kaum betroffen. Seit den 1890er Jahren wurden hier zunächst viele kleine und mittlere Firmen der Metallindustrie und der Stahlverarbeitung tätig und später entstanden auch Standorte der Stahlindustrie (Henrichshütte Hattingen, Klöckner Hagen).

die Hellwegzone (II) – war zunächst der wesentliche Bereich, in dem sich sowohl der Bergbau und gleichzeitig die Stahl- und Hüttenwerke ansiedelten.  Dabei war der Bergbau notwendiger Kohlelieferant der rasch sich entwickelnden Stahlindustrie. In der Folge überwog in dieser Zone aber die Stahlindustrie – von Duisburg über Essen und Bochum bis Dortmund, Thyssen in Duisburg und Mülheim, Krupp in Essen, Bochumer Verein in Bochum, Hoesch in Dortmund. Aber die Deckung des Kohlebedarfs dieser Stahlriesen aus den umliegenden Zechen reichte bald nicht mehr aus, so dass sich der Bergbau weiter nach Norden hin ausbreitete und zwar in die

die Emscherzone
In der Grafik  zusätzlich aufgeteilt in eine Emscherzone (III) und eine Vestische Zone (IV). Hier entstand der klassische Bergbau des Ruhrgebiets mit Tausenden von Bergleuten auf jeder Zeche.  Es waren die späteren Städte Oberhausen, Bottrop, Gelsenkirchen, Herne, Wanne-Eickel, Castrop-Rauxel, Recklinghausen und die nördlichen Eingemeindungen – spätere Stadtteile - von Duisburg (Hamborn) und Essen (Altenessen, Karnap, Katernberg, Stoppenberg). Dieser Bereich war es vor allem, in den der große Strom der Zuwanderer vor allem aus den ostdeutschen Provinzen zog, um hier  Arbeit im Bergbau zu finden.

Den letzten Schritt machte dann der Bergbau in die
die Lippezone – (V) -  mit den Städten Dorsten, Marl, Datteln bis nach Hamm -   und – hier nicht dargestellt auf die linke Rheinseite (Kamp-Lintfort)

Bis 1857 gab es im Ruhrgebiet bereits 296 Zechen und die Kohle-Förderung stieg auf 3,6 Mio Tonnen.  Die Gründung des Deutschen Reiches  1871 gab der Wirtschaftsentwicklung des neugegründeten Reichs einen gewaltigen Aufschwung, wovon besonders die Kohlebergwerke und die Stahlindustrie im Ruhrgebiet profitierten.
1870 betrug die Kohleförderung im Ruhrbergbau 11,8 Millionen Tonnen, 1920 waren es 88,1 Millionen, das bedeutete eine Steigerung  um das achtfache. Durch die rasche Expansion des Steinkohlebergbaus herrschte bereits seit den 1870er Jahren in den Industriegebieten an Rhein und Ruhr ein erhöhter Arbeitskräftebedarf. Analog zur Kohleförderung stiegen die Belegschaftszahlen im Ruhrbergbau von 12.741 im Jahre 1850 über 50.749 im Jahre 1870  auf 228.593 im Jahre 1900 und schließlich auf 473.468 im Jahre 1920.[1]

Eine ähnliche Entwicklung gab es auch in der Stahlindustrie, so dass die Bevölkerung des Ruhrgebiets gewaltig anstieg. Hatte das Ruhrgebiet 1852 lediglich etwa 375.000 Einwohner so waren es 1870 schon etwa 536.000. Bis 1910 erfolgte ein besonders deutlicher Anstieg der Bevölkerung des Ruhrgebiets auf etwa 3 Millionen und schließlich auf 3,7 Millionen um 1920. Damit war in etwa 70 Jahren eine Verzehnfachen der Gesamtbevölkerung des Ruhrgebiets (in den Grenzen des heutigen Regionalverbands Ruhr) eingetreten. Dies verdeutlicht die Einwohnerentwicklung einiger uns besonders gut bekannter Großstädte im Revier.[2]

Bild 03: Einwohnerzahlen einiger Ruhrgebietsstädte

Dabei handelte es sich zunächst vor allem um Zuwanderer aus den ländlichen Räumen des heutigen NRW, also aus Westfalen und dem Rheinland. Später kamen Zuwanderer aus dem Bereich Hessen, Niedersachsen, Thüringen hinzu. Bei der Volkszählung im Jahre 1861 wurden im gesamten Rheinland und Westfalen lediglich 16 polnischsprachige Personen erfasst.

1.2 Arbeitskräftemangel im Ruhrgebiet - Anwerbung von Arbeitern in den deutsche Ostprovinzen
Parallel zu der industriellen Entwicklung im Ruhrgebiet wuchs in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Bewohner in den Ostprovinzen des Deutschen Reichs bzw. Preußens schneller an als im Westen.  Deshalb war der preußische Staat auch daran interessiert, dieser schnell wachsenden Bevölkerung im Osten Arbeitsmöglichkeiten zu bieten, damit es nicht zu sozialen Spannungen kam. Ein weiterer Aspekt für den preußischen Staat war damals in der Kaiserzeit die politische  Forderung nach einer Germanisierung  seiner nicht-deutschen, vor allem polnischen Untertanen in den Ostprovinzen. Diese Situation kam den Unternehmern des Ruhrgebiets entgegen, die bemüht waren, fleißige und zuverlässige Mitarbeiter zu bekommen. Sie konnten mit wesentlich besseren Verdienstmöglichkeiten im Ruhrgebiet werben. Auch in Oberschlesien gab es damals Kohle-Bergbau, aber unter schlechteren Arbeits- und Lohnbedingung. So lag es nahe, zunächst aus diesem Bereich die zusätzlich benötigten Arbeiter anzuwerben. So verdiente damals ein Hauer in Oberschlesien 2-3 Mark pro Schicht und in Westfalen 5-6 Mark. Zur Deckung des schnell wachsenden Arbeitskräftebedarfs wurden bald aber auch Hilfskräfte und Tagelöhner aus der Landwirtschaft und dem Handwerk angeworben. Diese Arbeitskräfte   kamen in der Folge vor allem aus den preußischen Provinzen Ostpreußen, Schlesien, Westpreußen und Posen. Neben besseren Arbeitsbedingungen lockte man die Arbeiter mit dem Angebot von Wohnungen in -  gegenüber dem Osten - vorbildlichen Wohnsiedlungen. Die Zechen schickten professionelle Werber in die preußischen Ostprovinzen, hängten dort Werbeplakate aus, sammelten Auswanderungswillige und schickten sie mit Sonderzügen ins Revier. Die Zeche Hibernia warb in Briefen an die Gastwirte der ostpreußischen Dörfer um Unterstützung, in denen es beispielsweise hieß:
Streng vertraulich! Wir bitten die Herren Wirte, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Arbeiter unter 26 Jahren, möglichst unverheiratet, hierher ziehen. Für jeden aus Ihrer Ortschaft zuziehenden Arbeiter zahlen wir Ihnen MK 3,-.[3]
Die von den Industriellen nach Osten geschickten Anwerber arbeiteten oft mit süßen Verlockungen. Auf einem Flugblatt von 1908, das insbesondere die Masuren aus Ostpreußen ansprach, hieß es.
In dieser  Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt, ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe des westfälischen Industriebezirkes, eine reizende, ganz neu erbaute Kolonie der Zeche ›Viktor‹ bei Rauxel.
Lage und Größe der Wohnungen werden ebenso eingehend beschrieben wie die Höhe der Verdienste in unterschiedlichen Lohngruppen und die Möglichkeiten zum Sparen. 
Zunächst kamen vor allem junge, alleinstehende Männer aus den preußischen Ostprovinzen ins Ruhrgebiet, die als „Kostgänger“ bei Einheimischen oder bereits im Ruhrgebiet lebenden Landsleuten unterkamen. In einem weiteren Schritt sind deren Familien nachgezogen, was die Bergwerke und Stahlfirmen veranlasste, den Arbeitern Wohnungen in Werkskolonien zur Verfügung zu stellen. Dies waren relativ preiswerte Unterkünfte in Nähe der Zechen und Firmen. Sie boten den Bewohnern die Möglichkeit Kleinvieh zu halten und einen Garten anzulegen. So entstanden zum Teil musterhafte Siedlungen, die auch heute noch als Wohnort im Ruhrgebiet beliebt sind, wie   z. B. die Krupp-Siedlung Essen-Margarethenhöhe, die Siedlung Eisenheim in Oberhausen oder die Siedlung Teutoburgia in Herne.[4]


Bild 04a + 04b: Zechensiedlung Bottrop und Krupp-SiedlungEssen-Margarethenhöhe

So entstand eine sogenannte Kettenmigration aus den damaligen deutschen Ostprovinzen, die bis zum ersten Weltkrieg anhielt.


1.3 Zuwanderer aus den deutschen Ostprovinzen und dem polnischen Kulturkreis

Damit bin ich beim besonderen Thema dieser Abhandlung, den Arbeitskräften aus dem Osten des damaligen Deutschen Reichs, deren Muttersprache nicht deutsch war.

Wer waren die Zuwanderer?

Die Einheimischen im Ruhrgebiet unterschieden damals drei Bevölkerungsgruppen:

>  die Alteingesessenen
>  die Hiesigen   und
>  die Fremden

Als Hiesige wurden dabei Zuwanderer aus dem Rheinland und Westfalen, aber z. T. auch aus anderen Teilen Westdeutschlands betrachtet.
Als Fremde galten Ostdeutsche – egal ob sie deutsch, polnisch oder eine andere Muttersprache hatten, ebenso wie andere Ausländer, z. B. Italiener und Niederländer. Italiener kamen vor allem als Arbeiter von Gesteinsbaufirmen, die in Italien bereits große Erfahrungen und bessere Technologien auf diesem Gebiet gesammelt hatten. Einige von ihnen blieben im Ruhrgebiet und wurden auf Grund ihrer geringen Zahl gut integriert. Die allermeisten gingen mit ihren Firmen aber wieder zurück nach Italien. Im Jahre 1893 wurden lediglich 610 italienische Arbeiter im Bergbau registriert. Auch der Anteil der Holländer war mit 699 im Jahre 1893 vergleichsweise gering, während 1893 bereits 20494 polnischsprachige Arbeiter im Bergbau gezählt wurden. In dieser Zahl sind natürlich Familienangehörige und in anderen Bereichen beschäftigte nicht enthalten.

Die Zuwanderung Fremder ins Ruhrgebiet bedeutete zunächst jedoch nicht, dass die Zuwanderer  als unerwünscht angesehen wurden. Denn es gab ja zum einen bereits seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts eine Zuwanderung und zum anderen war das Ruhrgebiet seit der Reformation konfessionell stark durchmischt. So gab es hier schon früh eine tolerante Haltung gegenüber der anderen Konfession und anders als im übrigen Westfalen galt im Kohlenpott nicht die Regel, dass man erst einen Sack Salz gemeinsam mit den Zugezogenen gegessen haben müsse, um in die Nachbarschaft aufgenommen zu werden.[5]

Wie schon angedeutet handelte es sich bei den Zuwanderern aus den deutschen Ostprovinzen keinesfalls um eine homogene ethnische oder religiöse Gruppe. Deshalb stellt sich zwingend  die Frage:  Wer waren die Zuwanderer aus den deutschen Ostprovinzen und aus dem polnischen Kulturkreis? Um diese Frage seriös beantworten zu können, muss man die polnische Geschichte kennen.

1.4 Kurzer Abriss der  polnischen Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert

Im 19. Und beginnenden 20. Jahrhundert – also dem Zeitraum der Zuwanderung ins Ruhrgebiet - gab es keinen polnischen Staat. In meinem Post 2.210 Polen – polnisches Volk werde ich im Kapitel „Niedergang des polnischen Staates und die Teilungen Polens – ein Trauma das polnischen Volkes“ ausführlich die polnische Geschichte des 18. Und 19. Jahrhunderts behandeln, so dass ich mich hier auf die für die polnischen Migranten im Ruhrgebiet wichtigen Fakten beschränke:
In den Jahren 1772, 1793 und 1795  hatten die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich den polnischen Staat schrittweise unter sich aufgeteilt – bekannt als die drei polnischen Teilungen -, so dass auf der Landkarte Europas bis zum Ende des Ersten Weltkriegs  für über 120 Jahre kein eigenständiger polnischer Staat mehr existierte.   
    
                            Bild 05: Polnische Teilungen
Nach einer Zwischenphase – der Herrschaftszeit  Napoleons – wurde im Wiener Frieden 1815 die Dreiteilung Polens endgültig beschlossen, wobei vor allem der russischen Anteil an Polen zu Lasten Preußens und Österreichs vergrößert wurde.  Seit dieser Zeit und somit auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 sah die Landkarte im Osten Deutschlands wie folgt aus:

                                Bild 06:: Preussen_Ost-Provinzen (Detail)

Die  Zuwanderer aus dem Osten, die zwischen 1870 und 1920  ins Ruhrgebiet kamen, stammten also vorwiegend aus den preußischen Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Posen und Schlesien.

Es handelte es sich nahezu ausschließlich um deutsche Staatsbürger. Polen aus dem zu Russland oder Österreich gehörenden ehemaligen polnischen Staat durften nicht dauerhaft ins deutsche Reich einwandern. Sie unterlagen einer sehr rigide angewandten Karenzzeit, d. h. sie durften nur als Saisonarbeiter z. B. in der Landwirtschaft einreisen. Daher kamen sie für den Bergbau nicht in Betracht. 1885/86 wurden z. B. ca. 40 000 Polen und Juden – fast ausnahmslos Staatsbürger des damaligen Russlands, die keine  deutsche Staatsbürgerschaft hatten, aus dem Reich ausgewiesen.. Der preußische Staat befürchtete nämlich bei einer gleichzeitigen Einreise von Polen aus dem zu Russland und Österreich gehörenden Teil Polens eine Verbrüderung und  eine Nationalisierung seiner eigenen polnischsprachigen Bevölkerung.[6]

1.5 Sprachen und religiöse Bekenntnisse der ostdeutschen 
Zuwanderer

Beim Anwerben von Arbeitskräften bevorzugten die Ruhrindustriellen Mitarbeiter, die möglichst ihrer eigenen Konfession angehörten. Als katholisch gesinnte Großunternehmer warben August Thyssen und Peter Klöckner Arbeiter aus den katholischen Gebieten Westpreußens und Posens für ihre Industriebetriebe in Wanne und Oberhausen an. Die evangelischen Gelsenkirchener Fabrikanten Friedrich Grillo und Emil Kirkdorf bevorzugten Arbeitskräfte aus dem evangelischen Ostpreußen, insbesondere Masuren.[7] Bottrop war ein Zentrum für Arbeiter aus Oberschlesien, Herne und Recklinghausen für polnische Zuwanderer aus der Provinz Posen.[8] Deshalb nochmals die Frage: Welcher Ethnie oder Religion waren die damals aus den preußisch-deutschen Ostprovinzen ins Ruhrgebiet kommenden Migranten zuzurechnen.

Denn in den deutschen (preußischen) Ostgebieten lebte damals eine sehr unterschiedliche  und gemischte Bevölkerung, bezogen sowohl auf die Muttersprache wie auch auf das religiöse Bekenntnis. Hinzu kommt die Tatsache, dass bereits 1888 in den Schulen der preußischen Ostprovinzen der Lese und Schreibunterricht in deutscher Sprache eingeführt wurde, so dass viele Einwanderer bereits vor ihrer Ankunft im Ruhrgebiet Kontakt mit der deutschen Sprache hatten. Wie die nachstehenden detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Provinzen zeigen, war die unterschiedliche Herkunft von besonderer Bedeutung im Verhalten zur eigenen und zur deutschen Sprache und Kultur.[9]

Betrachten wir also die verschiedenen Herkunftsgebiete = preußische Provinzen etwas genauer, so sehen wir an folgender Grafik,

                                         Bild 07 Ethnien_Ostdeutschland 1910

dass die Bewohner dieser ostdeutschen Provinzen sehr unterschiedlichen Volksgruppen angehörten. Rot bedeutet überwiegend deutsche Muttersprache, grün bedeutet meistens polnische Muttersprache, aber auch andere slawische Sprachen und Dialekte wie masurisch, kaschubisch oder wasserpolnisch (slask). Deshalb sehen wir uns die damalige Bevölkerung in den vier fraglichen Provinzen nun näher an:

1.51 Ostpreußen

Ostpreußen war durch den Deutschen Orden im Mittelalter kolonisiert worden. Die dort lebenden slawischen Prussen wurden christianisiert und aus dem Westen Deutschlands wurden Bauern ins Land gerufen, die es kolonisierten. So entstand ein neuer Menschenschlag, der einen deutschen Dialekt mit slawischem Akzent sprach, vielen unter uns noch als ostpreußisch bekannt.  In der Reformationszeit wurde das Ordensland Ostpreußen 1525 protestantisch und in das weltliche Herzogtum Preußen umgewandelt. 1648 wurde dieses Herzogtum Preußen mit dem Kurfürstentum Brandenburg verbunden, woraus dann später das Königreich Preußen wurde. Nach der Reformation siedelten sich im Süden des heutigen Ostpreußen Polen aus Masowien an, die einen eigenen polnischen Dialekt, das Masurische sprachen, der durch das lange Zusammenleben mit deutschen Siedlern auch viele deutsche Lehnwörter aufwies. Sie waren oder wurden Protestanten lutherischen Bekenntnisses. Ihr Kontakt zur polnischen Hochsprache riss ab. Die Masuren selbst bezeichneten sich als Altpreußen.
Ein kleiner Teil Ostpreußens, das Bistum Ermland, war bis 1772 weitgehend selbständig, aber der polnischen Krone unterstellt. Erst 1772 (bei der 1. Polnischen Teilung) kam das Ermland zu Preußen. Die Bewohner des Ermlandes blieben in und nach der Reformationszeit katholisch, sie waren jedoch fast ausschließlich deutsche Muttersprachler. Alle übrigen Einwohner Ostpreußens also auch die Masuren waren evangelisch-lutherisch. Die Preußische  Verwaltung und die allgemeine Schulpflicht bewirkten seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Eindeutschung der Masuren: Um 1875 gebrauchten noch etwa 66 Prozent der damals etwa 400.000 Bewohner des südlichen Ostpreußens Masurisch oder Polnisch, während schon 34 Prozent Deutsch sprachen. Im Rahmen der Volkszählung von 1910 gaben etwa 29 Prozent der Bewohner Masurisch, 13 Prozent Polnisch und 58 Prozent Deutsch als Muttersprache an.
                                          Bild 08a: Sprachen_in_Ostpreußen_1905 


                                                 Bild 08b: Bistum Ermland

Evangelische Masuren ließen sich – s. o. – vorzugsweise in Gelsenkirchen und Wattenscheid nieder, wobei eine besondere Verbindung nach Allenstein und Ortelsburg festzustellen war, so dass Gelsenkirchen zeitweise als Klein-Ortelsburg bezeichnet wurde. Der Anteil der Masuren an der Gelsenkirchener Bevölkerung soll 1910 16,2% ausgemacht haben. Evangelische Masuren galten als besonders preußisch und königstreu gesinnt, sie selbst bezeichneten sich als „Altpreußen“. Aufgrund dieser preußisch-deutschen Grundhaltung gaben sie früher als andere Migranten ihren Rückkehrwunsch auf und waren integrationswilliger. Dabei  wurden sie durch die deutsche Obrigkeit und die evangelische Kirche intensiv unterstützt. Allerdings behielt zumindest die erste Generation der masurischen Zuwanderer  ihre traditionellen Verhaltensweisen und ihre besondere sprachliche und religiöse Prägung bei.[10]
Fassen wir zusammen: Aus Ostpreußen kamen vorwiegend deutschsprachige und masurischsprachige Zuwanderer, die – bis auf wenige Zuwanderer aus dem Ermland - fast ausschließlich evangelischen Glaubens waren.
Für  den gesamten Bereich der Regierungsbezirken Arnsberg, Münster und Düsseldorf gibt es eine statistische Quelle[11]. Danach betrug die Zahl der

Masuren in den Regierungsbezirken Arnsberg, Münster u. Düsseldorf:
                                         - 1902  43.696 
                                         - 1904  54.265 
                                         - 1906  57.969 
                                         - 1908 113.047 
                                         - 1910 138.870
                                         - 1912 159.743



1.52 Westpreußen

Ganz anders die Situation in Westpreußen. Diese Provinz gehörte bis 1772 zu Polen und hatte – wie wir an der Karte sehen - eine sehr gemischte Bevölkerung. 
Bild 09: Sprachen_Westpreussen 1910

Teils war sie überwiegend deutsch wie in Danzig und Elbing sowie ganz im Westen, in der Mitte und im Südosten überwiegend polnisch, z. T. mit starker deutscher Minderheit. Dazu lebten und leben im Norden noch die Kaschuben, ein slawischer Volksstamm mit eigener Sprache, der sich teils der deutschen, teils der polnischen Kultur zugewendet hatte. In einigen Kreisen in der westlichen Mitte ergab sich sogar keine absolute Mehrheit einer Volksgruppe, weil Deutsche, Polen und Kaschuben etwa gleich groß waren.  Die deutsche Bevölkerung besonders in den Städten war überwiegend evangelisch, die polnische dagegen katholisch, die Kaschuben gehörten beiden Konfessionen an.

1.53 Provinz Posen
                                        Bild 10: Sprachen_Provinz_Posen_1910

Bis auf wenige Kreise im Norden und Westen war die preußische Provinz Posen überwiegend polnischsprachig. Im Unterschied zu Westpreußen war der  Anschluss Posens an Polen – abgesehen von zwei Kreisen im Westen –deshalb nach dem 1. Weltkrieg  auch bei den meisten Deutschen nicht umstritten. Von hier kamen also fast ausschließlich polnischsprachige katholische Zuwanderer ins Ruhrgebiet. Zentren der Zuwanderung aus Posen waren Bochum, Recklinghausen, Wanne und Oberhausen.

1.54 Schlesien
                                         Bild 11: Sprachen_in_Schlesien_1905

Eine große Zuwanderer-Gruppe kam aus der Provinz Schlesien und insbesondere aus Oberschlesien, da es hier wie im Ruhrgebiet ebenfalls Bergbau gab. Im Gegensatz zu den anderen 3 östlichen Provinzen gehörte Schlesien seit 1163, spätestens jedoch seit 1353 keinem polnischen Staat mehr an, sondern gehörte bis zu dessen Auflösung zum Römisch-Deutschen Reich. Zunächst fiel es an Böhmen, dann an Habsburg/Österreich und wurde schließlich nach dem siebenjährigen Krieg und dem Frieden von Hubertusburg  1763  ein Bestandteil Preußens und später des Deutschen Reichs.  Nicht zuletzt wegen der fehlenden Verbindung zum polnischen Staatsvolk und vielfältigem deutschen Kultureinfluss, hat sich hier bis heute eine eigene Mentalität und ein eigenständiger polnischer Dialekt entwickelt, das s. g. Schlesisch – polnisch slaski – manchmal auch etwas abwertend wasserpolnisch genannt. Viele Schlesier mit polnischer Mundart fühlten sich dem deutschen Kulturkreis verbunden und legen auch heute noch Wert darauf, dass Schlesier eine eigene Volksgruppe im polnischen Staat sind. Der katholische Glaube verband sie dennoch mit dem polnischen Volk. Viele  Menschen in Schlesien waren Doppelsprachler, so dass gerade diese Schlesier oft zwischen den Kulturen hin und hergerissen waren. Für sie hat man den Begriff des schwebenden Volkstums geprägt. Bei der Volksabstimmung nach dem 1. Weltkrieg hat sich aufgrund dieser besonderen Situation der überwiegende Teil der polnischsprachigen Schlesier für Deutschland entschieden, so dass Oberschlesien dann zwischen Polen und Deutschland aufgeteilt wurde. Außedem lebten im Süden des oberschlesischen Kreises Ratibor eine slawische Volksgruppe, die im 9. bis 11. Jahrhundert aus Mähren zugewandert war. Aufgrund der jahrhunderte langen Trennung vom mährischen Stammland sprachen sie einen eigenen Dialekt, der stark mit deutschen Lehnwörtern durchsetzt war. Ähnlich den Masuren in Ostpreußen waren diese Mähren preußisch-deutsch gesinnt und grenzten sich von den Polen stets ab. Laut Volkszählung vom 1. 12. 1900 gaben 64.382 Personen Mährisch als ihre Muttersprache an.

Oberschlesier wurden besonders in Bottrop ansässig, wobei eine Mehrheit aus den Kreisen Ratibor und Rybnik stammte.  Bereits im Januar 1871 reiste ein Vertreter der Grube Prosper I auf der Suche nach geeigneten Bergarbeitern in den Osten. Er kam mit 25 Männern aus dem Landkreis Rybnik zurück. Im gleichen Jahr fuhr der Steiger Karl Sliwka erneut für Prosper I in den Osten und brachte 400 Männer mit. 1872 holte er nochmals 500 Männer von dort. 1875 konnte Leopold Kowalik 20 polnische Familien nach Bottrop locken. Anfang 1880 lebten bereits 2.000, 1914 ungefähr 24.000 Oberschlesier in Bottrop, das zum Zentrum der schlesischen Einwanderer aus Ratibor und Rybnik wurde. Eine weitere Besonderheit war, dass es sich oft um qualifizierte Arbeiter (und auch Angestellte) handelte, da ein Drittel der männlichen und weiblichen Arbeiter beider Landkreise in der Industrie und im Bergbau tätig gewesen war. Genau deshalb warb die Arenberg-Bergbau GmbH sie auch an.[12]

1.6 Resümee - Vielfalt der Zuwanderer bis zum 1. Weltkrieg

Diese historisch-kritische Betrachtung der Zuwanderer aus ostdeutsch- preußischen Provinzen zeigt, dass die damals ins Ruhrgebiet eingewanderten Migranten keineswegs eine Einheit bildeten. Deutsche Behörden taten sich schwer bei ihrer zahlenmäßigen Erfassung. Die Bevölkerungs- und Nationalitäten-Statistik des Deutschen Reiches hielt die Herkunft der Menschen nicht eindeutig auseinander und sie ist daher teilweise irreführend. Die Zuwanderer wurden behördlich nach ihrer Staatsangehörigkeit als deutsche, österreichisch/ungarische oder russische Staatsangehörige eingeordnet. Die preußische Verwaltung fasste bis 1910 Polen, Masuren und Kassuben als Polen zusammen. Als Trennungsmerkmal diente für deutsche Behörden zwar auch die Angabe der Muttersprache. Vielfach lehnten Polen, besonders aber Masuren und Oberschlesier, es jedoch ab, sich als Polen „abstempeln“ zu lassen, und gaben als Muttersprache Deutsch an. Man tat vielen Zuwanderern also unrecht, wenn man sie pauschal als Polacken bezeichnete. Man hätte sehr wohl unterscheiden können zwischen Deutschen, Polen, Masuren, Kaschuben, Oberschlesiern und Menschen mit schwebendem Volkstum bzw. schwebender Kultur. Aber das erforderte ein differenziertes Denken. In gleicher Weise können  wir ja auch heute  bei unseren türkischen Zuwanderern nicht von einer einheitlichen Bevölkerungsgruppe ausgehen. Denken wir nur an die vielen Kurden und Aleviten. Aber das ist ein anderes Thema. (siehe Post 1.240 Migration, Integration, Assimilation und dort den Abschnitt 5.3 bzw. besonders 5.34)

Leider wurde vor dem 1. Weltkrieg In der öffentlichen Wahrnehmung nicht zwischen Polen, Schlesiern, Masuren und Kaschuben unterschieden, ja sogar Ostpreußen mit deutscher Muttersprache oder Nachkommen aus Mischehen wurden von Einheimischen oft als Polacken betrachtet. Der polnische Nachname war keineswegs ein Nachweis, dass die Namensträger nicht seit Generationen deutsch als Muttersprache verwendeten. Ein großes Problem bildet daher die „Definition“: Wer war Pole und wer nicht? Daher gibt es auch sehr unterschiedliche Angaben über die tatsächliche Zahl der Polen und Masuren im Ruhrgebiet. Mit einer gewissen Sicherheit kann man aber davon ausgehen, dass bis zum Ende des 1. Weltkriegs im Ruhrgebiet ca. 350.000 ethnische Polen und ca. 150.000 Masuren lebten.

2.0 Politisches und kirchliches Umfeld der polnischsprachigen Migranten des 19. Jahrhunderts

2.1 Preußisch-deutsche Germanisierungs-Politik

Während der preußische Staat Anfang des 19. Jahrhunderts einen sehr liberalen Kurs hinsichtlich seiner fremdsprachigen Minderheiten verfolgte, begann die preußische Regierung nach 1871 in den deutschen Ostprovinzen einen strikten Kurs der Germanisierung.  In einem Erlass von 1873 wurde die Abschaffung der polnischen Muttersprache im Unterricht (außer im Religionsunterricht) angeordnet. 1876 wurde deutsch Amtssprache aller Behörden. Die Ansiedlung von Deutschen in den polnischsprachigen Gebieten wurde massiv gefördert. Ein Fond von 100 Millionen Reichsmark wurde zur Stärkung des deutschen Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen geschaffen, allerdings mit nur mäßigem Erfolg. All das trug auf der Gegenseite dazu bei, dass vermehrt polnische Vereinigungen und später eine Polen-Partei gegründet wurden, die eine Wiederherstellung des polnischen Staates forderten.

2.2 Kulturkampf Bismarcks

Als die ersten polnischen und katholischen Arbeiter ins Ruhrgebiet kamen, herrschte im neuen deutschen Reich gerade der sogenannte Kulturkampf. Wir erinnern uns: Papst Pius IX. verfolgte einen streng konservativen Kurs. 1864 veröffentlichte er den Syllabus errorum (das „Verzeichnis der Irrtümer“), eine Auflistung von 80 angeblichen Irrtümern der Moderne in Politik, Kultur und Wissenschaft. Darin verurteilte er Rede- und Religionsfreiheit sowie die Trennung von Staat und Kirche. 1870 wurde der Vatikanstaat aufgelöst und in das neue Italien eingegliedert. Den Verlust an weltlicher Macht versuchte Papst Pius IX durch mehr Macht in der katholischen Kirche zu kompensieren. Auf dem Konzil im gleichen Jahr wurde das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubensfragen erlassen. Gleichzeitig wurde im Vatikan die kirchliche Machtzentrale verstärkt und das Einsetzen von Bischöfen in den weltweiten Diözesen wurde päpstliches Recht. Außerdem war die katholische Kirche seit dem Mittelalter Trägerin vieler Einrichtungen z. B. im Schulbereich und im Sozialbereich und beanspruchte für sich das Recht der Eheschließung statt der Zivilehe. Diese Auseinandersetzung war ein gesamteuropäisches Problem und es gab in vielen europäischen Ländern, aber auch in Mexiko und Brasilien Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat um die Zuständigkeitsbereiche.

In Deutschland kam aber ein weiterer Aspekt hinzu. Nach der Gründung des deutschen Reiches 1871 fürchtete der deutsche Reichskanzler Fürst Bismarck, dass die neue deutsche Einheit besonders in Gebieten mit katholischer Bevölkerung durch Fremdeinflüsse aus dem Vatikan gefährdet würde. Deshalb versuchte man den Einfluss der Kirche einzudämmen. Als Folge wurde 1872 ein neues Schulaufsichtsgesetz geschaffen, das die Schulen staatlicher Aufsicht unterstellte und damit dem kirchlichen, d. h. katholischen Einfluss entzog. Das hatte Auswirkungen vor allem auf die katholisch-polnischen Schulen im Osten. 1873 wurde durch die Maigesetze die Kontrolle kirchlichen Vermögens durch gewählte Gemeindevertreter eingeführt. 1874 wurde Gesetz, dass nur die Zivilehe gültig war und wer kirchlich heiraten wollte konnte dies erst nach der standesamtlichen Trauung.
Bis  zur Beendigung des Konflikts wurden 1800 katholische Pfarrer wegen Widerstands gegen die neuen Gesetze ins Gefängnis gebracht. Die katholische Zentrumspartei erhielt durch die Auseinandersetzung erheblichen Zulauf. Als Pius IX. 1878 starb, folgte ihm Leo XIII. im Amt. In direkten Verhandlungen mit der Kurie wurden nun harte Gesetze abgemildert. Im Sommer 1882 nahm Preußen wieder diplomatische Beziehungen zum Vatikan auf. Die 1886 und 1887 erlassenen Friedensgesetze führten schließlich zur Beilegung des Konflikts. Leo XIII. erklärte am 23. Mai 1887 öffentlich den „Kampf, welcher die Kirche schädigte und dem Staat nichts nützte“, für beendet.

2.3 Katholische Kirche im Ruhrgebiet

Vor diesem Hintergrund kamen katholische polnische Arbeiter in den Westen. Selbstverständlich gab es hier im Westen für die Kinder keinen Schulunterricht in polnischer Sprache. Aber die frommen katholischen Polen wünschten sich auf jeden Fall eine Sonntagsmesse mit polnischer Predigt, polnischen Liedern und polnischen Geistlichen für Beichte und Seelsorge-Betreuung in der Muttersprache.

Die katholische Kirche im Ruhrgebiet steckte in einem Dilemma. Auf der einen Seite sprach eine wachsende Anzahl ihrer aus dem Osten des Reiches stammenden Gläubigen nur oder hauptsächlich Polnisch und man musste deren Bedürfnisse aus Glaubenssicht berücksichtigen. Andererseits hatte man Mitte der 1880er-Jahre gerade die Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat um die Rechte der Kirche beigelegt, die Zeit des Kulturkampfes war vorüber. Diese Ruhe wollte man nicht gefährden. Dazu waren große Teile der katholischen Hierarchie – sowohl Bischöfe wie auch Priester – selbst von einer Politik der Germanisierung überzeugt. Ungünstig hinsichtlich einer für das gesamte Ruhrgebiet verbindlichen Lösung  war, dass die  die katholische Kirche des Ruhrgebiets damals auf 3 Diözesen (Paderborn, Münster und Köln) aufgeteilt war, so dass 3 Bischöfe in der Verantwortung waren, diese auf die Probleme der Ruhrpolen aber nicht immer einheitlich reagierten.  
Bild 12

All das führte zum jahrzehntelangen 

2.4 Kampf der Ruhrgebiets-Polen um polnische Seelsorger und die Sonntagsmesse in polnischer Sprache

Der für einen besonders großen Teil des westfälischen Ruhrgebiets (Bochum, Dortmund, Herne, Wanne-Eickel, Gelsenkirchen) zuständige Bischof von Paderborn, Kaspar Drobe (1882-1891), sorgte zunächst dafür, dass ein polnischer Priester für die Seelsorge dieser Gläubigen zur Verfügung stand. Am 23. Dezember 1884 wurde der Priester Józef Szotowski aus der Diözese Kulm (Chełm) in die Paderborner Diözese versetzt. Bis dahin wurden die polnischsprachigen Gläubigen durch polnische Wanderprediger sporadisch seelsorgerisch versorgt. Szotowski nahm die Stelle eines Kaplans der Pfarrei St. Peter in Bochum ein, die ausschließlich für die Polenseelsorge bestimmt war. Er wohnte in dem zu dieser Zeit verwaisten Redemptoristen-Kloster am Kaiser Friedrich Platz in Bochum, dem heutigen Imbuschplatz. Die deutschen Redemptoristen mussten dieses Kloster 1873 infolge des Kulturkampfes verlassen und hatten sich in der Nähe der deutschen Grenze im holländischen Glanerbrug niedergelassen. Das Bochumer Redemptoristen-Kloster entwickelte sich in der folgenden Zeit zum Zentrum der Polenseelsorge für das Ruhrgebiet.
Einmal im Monat hielt Szotowski eine Sonntagsmesse in polnischer Sprache jeweils in Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen und am vierten Sonntag in einer weiteren Stadt des Ruhrgebiets. Sporadisch versorgte er auch die Polen und Polinnen in den Diözesen Köln und Münster, wo es keinen fest angestellten polnischen Seelsorger gab.
Unter einer aktiven Seelsorge verstand Szotowski aber nicht nur das Abhalten von Gottesdiensten, die Abnahme der Beichte, die Durchführung von kirchlichen Bestattungen und ähnliche religiöse Handlungen. Seelsorge bedeutete auch, die Menschen darüber hinaus zu betreuen. Er half, durchaus in Zusammenarbeit mit den örtlichen deutschen Priestern, den in der neuen Umgebung sich nicht so leicht zurechtfindenden polnischsprachigen Menschen bei der Gründung polnisch-katholischer Vereine. Die Vereine sollten helfen, durch regelmäßige Bildungsarbeit den Boden „für Brüderlichkeit und gute Sitten“ zu bereiten.
Durch seine rege Tätigkeit überlastet, wandte sich Szotowski mehrfach an den Bischof in Paderborn und drang „auf Vermehrung der geistlichen Kräfte für die Seelsorge der polnischen Katholiken in den westfälischen Diözesen. Im Ergebnis wurde der ungebetene Bittsteller stattdessen zurück versetzt. Als Nachfolger wurde am 1. April 1890  der ebenfalls aus der Diözese Kulm stammende Priester Dr. Franciszek Liss berufen.  Auch sein Wohnort war im Redemptoristen-Kloster in Bochum, wodurch sich dieser Standort als Zentrum der Polenseelsorge festigte. War Bochum in der Zeit Szotowskis mehr oder weniger ideelles Zentrum kraft des Wohnsitzes des polnischen Priesters, so wurde es während der Zeit von Liss mehr und mehr auch zum organisatorischen Zentrum des Ruhrpolentums. Die bereits damals vorhandene große Bedeutung Bochums für die ruhrpolnische Bewegung wird auch dadurch deutlich, dass in dieser Stadt am 3. Juni 1894 der erste polnische Katholikentag stattfand. Liss knüpfte auch Kontakte zu den deutschen Redemptoristen in Holland, die an einer Rückkehr nach Bochum interessiert waren. Gleichzeitig stellte er eine Verbindung zu Redemptoristen  aus Galizien her, die auch in Großpolen und in der Diözese Kulm tätig waren.  Er organisierte Missionspredigten dieser Redemptoristen in Bochum, an denen etwa 1000 Ruhrpolen vor allem aus Bochum teilnahmen.

2.5 Gründung und Tätigkeit katholisch-polnischer Vereine und Organisationen

Als Priester war Liss ständig in den verschiedenen Orten des Ruhrgebiets unterwegs, hielt dort die Beichte ab, organisierte religiöse Treffen und Unterweisungen. Wie bereits sein Vorgänger unterstützte und initiierte auch er die Gründung von polnisch-katholischen Vereinen, deren geistliche Patenschaft er übernahm. So hielt er die heilige Messe anlässlich der Kongresse polnisch-katholischer Vereinigungen, weihte Fahnen polnischer Vereine usw. In der Anfangsphase seiner Arbeit erfüllte er so einen wichtigen Auftrag der deutschen katholischen Kirche, der nicht zuletzt darin bestand, durch die Organisation der Polen in katholischen Vereinen diese vor den Einflüssen der Sozialdemokratie zu schützen. Allerdings trat in dieser Zeit die nationale Komponente in der Arbeit der Vereine immer stärker in den Vordergrund. Die ruhelose Tätigkeit des polnischen Priesters Dr. Liss in Verbindung mit den von ihm organisierten Missionspredigten stärkten auch das Bemühen von Liss um den Erhalt der polnischen Sprache und Kultur. Ein Merkmal für diese Entwicklung bestand darin, dass neue Vereinsfahnen fast immer Aufschriften in polnischer Sprache bekamen, die häufig die Mutter Gottes von Tschenstochau anriefen. 
 

Bild 13: Hier beispielhaft die Fahne des polnischen Rosenkranzvereins der Herz-Jesu-Kirche in Bottrop
 
Schließlich führten nicht zuletzt die Aktivitäten von Liss  zur Entstehung vieler polnischer Vereine, einer polnischen Zeitung „Wiarus Polski“  und des Bundes der Polen in Deutschland 1894. (dazu später mehr)[13]
Bereits 1893 war die Zahl der polnisch-katholischen Vereine im gesamten Ruhrgebiet auf mehr als 100 angewachsen. Für die in einer fremden Umgebung lebenden Menschen hatten diese Vereine eine hohe Bedeutung. Dort konnten sie andere, die sich in ähnlicher Situation befanden, kennenlernen, Gemeinsamkeiten pflegen, die Heimaterinnerung aufrechterhalten und Unterstützung bei alltäglichen Problemen erhalten.
Trotz ihrer Bindung an die ‚deutsche’ katholische Kirche und der deutlichen antisozialdemokratischen Ausrichtung wurden diese Vereine vom preußischen Staat wie auch von großen Teilen der katholischen Kirche mit Misstrauen und Ablehnung beobachtet. Man vermutete, dass unter dem Deckmantel kirchlicher Vereine nationalpolnische Ideen verfolgt würden. Dem Druck des Staates gaben daher die westdeutschen Bischöfe nach und so musste der polnische Priester Liss am 30. 6. 1894 auf Weisung des Paderborner Bischofs Hubertus Simar (1891-1899) Westfalen verlassen und wurde zurück in die Diözese Kulm versetzt, weil er nach Ansicht der Behörden das Nationalbewusstsein der Polinnen und Polen zu sehr stärkte. Neue polnische Priester wurden nunmehr nicht mehr in die Ruhrregion berufen. Stattdessen bildete man deutsche Priester speziell für die Polenseelsorge aus, die die polnische Sprache zu lernen hatten. Dafür wurden seit 1894 an den Priesterseminaren zuerst in Paderborn und später auch in Münster Polnischkurse eingerichtet. Franciszek Liss war der letzte hauptamtliche polnische Priester im Ruhrgebiet bis 1945.
Nach langwierigen Verhandlungen und unter Einschaltung des Papstes und der Münchener Nuntiatur genehmigte die deutsche Reichsregierung 1899 die Rückkehr der deutschen Redemptoristen in das Bochumer Kloster und zwar mit der Auflage, dass sie die polnischen Seelsorge zu übernehmen hätten. Da die deutschen Ordensmitglieder der polnischen Sprache jedoch nicht mächtig waren, wurden sie zunächst in polnische Klöster der Redemptoristen geschickt, um die Sprache zu erlernen.
All diese Bemühungen, ausschließlich mit polnisch sprechenden deutschen Priestern die Lage zu entspannen,  führten bei vielen maßgeblichen Ruhrpolen   zu einer Verhärtung der Fronten. Die Forderung der polnischen Gläubigen nach regelmäßigen polnischsprachigen Gottesdiensten durch polnische Priester, die ihre Mentalität verstanden, wurde immer selbstbewusster geäußert. Man lehnte die deutschen polnischsprachigen Seelsorger häufig ab, weil man meinte, dass nur wenige dieser Priester die Vorstellungen der polnischen Gläubigen erfüllten, stattdessen unterstellte man ihnen, die  Germanisierung der Polen im Ruhrgebiet umzusetzen.
Eine erste große Demonstration des aufkommenden Selbstbewusstseins polnisch-katholischer Vereine fand am 12. Juli 1891 statt. An diesem Tage hatte der Bochumer St. Barbara-Verein eine Versammlung von Delegierten aus 38 polnisch-katholischen Vereinen in Bochum organisiert. Ziel war es, einen Überblick über die polnischen Organisationen im Ruhrgebiet zu erhalten. Außer den Delegierten waren so viele Gäste gekommen, dass die zum Teil keinen Platz im Veranstaltungs-Saal des Stadttheaters und bei der Messe in der Redemptoristen-Kirche fanden. Nach den Veranstaltungen zog ein farbenprächtiger Trachten-Umzug unter reger Aufmerksamkeit der Bochumer Bevölkerung durch die Stadt. Drei Jahre später, am 3. Juni 1894, wurde auf dem in Bochum stattfindenden ersten polnischen Katholikentag eine Acht-Punkte-Resolution verabschiedet, in der man zwar grundsätzlich für die geistliche Betreuung durch die deutsche katholische Kirche dankte, aber darauf drang, polnische katholische Geistliche für die Betreuung zu bekommen. „Wir sind von polnischen Eltern geboren und können nicht soviel deutsch, um deutsch beichten und deutsche Predigten zu verstehen. Daher brauchen wir polnische Seelsorger.“
Ziemlich bald verschärften sich die Auseinandersetzungen, vor allem nachdem Anfang 1895 der Bund der Polen in Deutschland (Związek Polaków w Niemczech, ZPwN) gegründet wurde.  Dieser unterstützte am 10. Februar 1895 in Bochum auf einer seiner ersten großen öffentlichen Kundgebungen vor 1.500 Polen die Forderung nach polnischen Priestern. Da die katholische Amtskirche wie auch die Zentrums-Partei den Forderungen der Polen nicht entgegenkamen, kam es in dieser Zeit fast zu einem unversöhnlichen Gegenüber. Noch schärfere Töne wurden am 4. August 1901 auf einer Versammlung polnischer Arbeiter in der Tonhalle in Bochum angeschlagen. In der verabschiedeten Resolution hieß es:
„Damit wir umso erfolgreicher unseren Kindern den Glauben an die Kirche erhalten können, werden wir immer nach Geistlichen verlangen, nicht nur nach solchen, die die polnische Sprache gut verstehen, sondern die auch unsere nationalen Bedürfnisse erkennen und wirklich zu erfüllen vermögen.“
Die mangelnde Unterstützung der Wünsche nach polnischen Priestern war ein wesentlicher Punkt, dass sich ab der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre eine wachsenden Distanz zwischen den polnisch-katholischen Vereinen mit den deutschen Gemeinden entwickelte. Aus vielen Vereinen wurden die deutschen Priester nach und nach zuerst aus den Vorständen und dann aus den Vereinen selbst gedrängt, wenn sie sich nicht selber zurückzogen. Umgekehrt weigerten sich viele deutsche Priester, die Fahnen der polnischen Vereine zu weihen und polnische Vereinsfahnen auf Prozessionen zuzulassen. Letztlich führte diese Auseinandersetzung dazu, dass sich viele polnisch-katholische Vereine nach und nach politisierten und einen immer stärkeren national-polnischen Charakter bekamen. Wenn sie auch die Bindungen zur deutschen katholischen Kirche nicht vollständig abreißen ließen, so löste sich doch durch diese Auseinandersetzungen bei vielen polnischen Arbeitern die politische Bindung zur Zentrum-Partei, denn auch die unterstützte grundsätzlich die Germanisierungspolitik des preußischen Reiches.
Die Gründungswelle polnischer Vereine mit bewusst katholischer Ausrichtung wurde dadurch aber nicht gebremst. Existierten 1896 im Ruhrgebiet 77 Vereine dieser Art, so waren 1904 bereits fast 200 registriert und 368 im Jahre 1911, gemäß der offiziellen Statistik des Polizeipräsidenten Bochum vom 1. April 1911.
Da aber die meisten der aus dem preußischen Osten stammenden Arbeiter wenn überhaupt nur eine elementare Schulausbildung besaßen, hatten sie große Schwierigkeiten bei Vereinsgründungen, Anmeldungen von Veranstaltungen oder Kundgebungen und ähnlichen Vorhaben gegenüber den Behörden. Deshalb gründete sich 1904 auf Initiative des Wiarus Polski der „Bund polnisch-katholischer Vereine für gegenseitige Hilfe in Westfalen, im Rheinland und in den benachbarten Provinzen mit Sitz in Bochum“ („Związek Wzajemnej Pomocy Poslkich Towarzystw Katolickich dla Westfalii, Nadrenii i Prowincji Sąsiedzkich z Siedzibą w Bochum”). Erster Vorsitzender wurde der in Bochum wohnende Redakteur des Wiarus Polski Stanisław Kuńca. Direkt bei Gründung schlossen sich ihm 27 Vereine an, 1912 waren 139 Mitglied und 1914 war mit 174 polnisch-katholischen Vereinen, die ca. 18.500 Mitglieder hatten, die Mehrheit der Ruhrgebietsvereine in diesem Verband organisiert.
Aufgabe des Bundes polnisch-katholischer Vereine war:

Gegenseitige Unterstützung bei der Gründung von Vereinen und der       Erstellung seiner Statuten entsprechend den staatlichen Vorgaben,           Organisation von Vorträgen und Diskussionstreffen durch die             Bereitstellung von Referenten, Vervielfältigung von Informationen, Vorträgen und deren Verbreitung, Unterstützung bei der Organisation von Kundgebungen und Versammlungen,  allgemeine Beratung von Vereinen und ihren Mitgliedern sowie die Schlichtung von Streitereien zwischen Vereinen und einzelnen Mitgliedern.[14]
Neben den rein katholischen Vereinen gab es laut polizeilicher Feststellung im Jahre 1912 insgesamt 875 polnische Vereine – ohne die Gewerkschaft- mit über 80.000 Mitgliedern (dabei allerdings viele Doppelzählungen). Die Palette reichte von Gesangvereinen, Lotteriegemeinschaften, Rosenkranzbruderschaften bis hin zur sozialistischen Partei (PPS). Letztere brachte es allerdings in allen Ortsgruppen des Ruhrgebiets nur auf insgesamt 408 Mitglieder.[15]
 

2.6 Bottrop als Beispiel für den Kampf der Polen um polnisch-sprachige Seelsorge

Die Situation der polnisch-sprachigen Zuwanderer verdeutlicht auch das Beispiel der Polen in Bottrop. Wie schon erwähnt stammten diese vor allem aus Oberschlesien, und besonders aus den Kreisen Rybnik und Ratibor. Nach dem Stand vom 1. 12. 1900 waren 82,5% der Bewohner von Rybnik und 43,7% der von Ratibor polnisch-sprachig. Außerdem sprachen 33,9% der Bevölkerung des Kreises Ratibor (im Südteil, dem Hultschiner Ländchen, wo es auch Bergbau gab) einen slawischen (mährischen) Dialekt.[16]
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Zahl der Polen in Bottrop einschließlich der Mährischsprecher auf ca. 7.000 angewachsen. Das Fehlen regelmäßiger Gottesdienste in polnischer Sprache hatte – wie vorstehen schon ausgeführt – auch in Bottrop viele Polen verärgert und einige Mitglieder der polnischen Gemeinschaft beschlossen zu handeln. Am 20. 3. 1898 fand die erste Versammlung polnischer Bergarbeiter in einem Wirtshaus statt, bei der die dauerhafte Einsetzung eines polnischen Priesters gefordert wurde. Unter Leitung der Brüder Swoboda fand nach einer Unterschriftenaktion eine weitere Versammlung statt, die per Akklamation feststellte, dass man die auf deutsch gehaltenen Predigten nicht verstünde und beschloss daraufhin eine Bittschrift an den Bischof von Münster zu überbringen. Gefordert wurde darin die Entsendung eines polnisch sprechenden Priesters nach Bottrop und dass die Kirchengemeinde dessen Kosten tragen sollte.
Das Vorgehen der Bottroper Polen  führte zu überzogenen Reaktionen auf deutscher Seite, wobei sich die „Bottroper Volkszeitung“ zu deren Sprachrohr machte.  Die Zeitung fragte in einem polemischen Artikel „…ob denn die Polen wirklich so wenig bildungsfähig seien, dass sie nach einem achtjährigen Schulbesuch die deutsche Sprache nicht erlernen könnten. Man hätte die Polen für klüger gehalten und vermutete, dass die Aktion ein Werk junger Radikalpolen sei, die eine gänzlich polnische Pfarrei in Bottrop errichten wollten.“ Zum Schluss gab man in dem Artikel den Brüdern Swoboda den unmissverständlichen Rat, sie könnten ja wegziehen, wenn es ihnen in Bottrop nicht gefiele.
Die Polen waren auch deshalb verärgert, weil es bis 1895 in Bottrop trotz der gewachsenen Bevölkerung nur eine Kirche – St. Cyriakus in der Stadtmitte – gab und eine zweite Kirche – St. Johannes - kurz darauf in der weit außerhalb liegenden Bauernschaft Boy errichtet wurde. Der Sturm schien sich aber zu legen, als die kirchlichen Instanzen in Bottrop im Juli 1898 den Bischof von Münster baten, den Bau einer dritten Kirche zu genehmigen. Ein Grundstück am Rande der Stadtmitte war dafür von einer Deutschen, der Witwe Breuker geb. Hüsken, gestiftet worden.
Der Bischof gab erst 1899 seine Zustimmung, weil er den Standort nicht für günstig im Sinne der polnischen Gläubigen hielt, die sich hauptsächlich im Stadtteil Lehmkuhle angesiedelt hatten. Schließlich wurde die Kirche auf dem gestifteten Grundstück errichtet, nachdem 85 Bottroper Bürger 50.000 RM für den Bau gestiftet hatten und die Arenberg-Bergbau GmbH. weitere 20.000 RM dazu gab, weil sie Interesse an der Zufriedenheit ihrer polnischen Arbeiter hatte. Im Oktober 1902 wurde die Kirche Herz Jesu fertiggestellt und es wurden nun regelmäßig Messen mit polnischen Predigten und Liedern abgehalten. Ein Jahr später entsandte der Bischof von Münster den deutschen Kaplan Vennekamp an die Herz-Jesu-Kirche nach Bottrop, der die polnische Sprache gut beherrschte, andererseits dem Bischofs keinen Anlass zur Sorge wegen nationalistischer polnischer Tendenzen gab.


                                             Bild 14: Herz Jesu Kirche Bottrop
So schien sich die Lage für beide Seiten zunächst zu beruhigen. Aber bald kam es zu neuen Auseinandersetzungen. Obwohl die Kirche Herz Jesu von Anfang an ein polnisches Gesicht hatte und überwiegend von Polen besucht wurde, waren Gemeindevertretung und Kirchenvorstand nach wie vor für alle drei Kirchen in Bottrop zuständig. Aber in der Gemeindevertretung gab es bei 30 Mitgliedern nur 3 Polen und im Kirchenvorstand war nur 1 Pole von 10 Mitgliedern. Dieser Zustand wurde von der polnischen Zeitung „Wiarus Polski“ heftig kritisiert und es wurde beim Bischof von Münster Beschwerde eingelegt. Danach wurden die Bottroper Kirchengemeinden in 3 selbständige Gemeinden aufgeteilt. Bei den Wahlen im Jahre 1905 gewannen nun die Polen 9 von 10 Sitzen im Kirchenvorstand und 22 von 30 Sitzen in der Gemeindevertretung von Herz Jesu. Nun reagierte die deutsche Seite mit Staunen und Empörung. In der „Bottroper Volkszeitung“ wurden die Wahlumstände als „hetzerisches Treiben“ von radikalen Polen bezeichnet. Man beschimpfte die Polen als undankbar, nachdem große Summen von Deutschen für den Kirchenbau gespendet worden seien. Es sei höchste Zeit, dass die Regierung Schritte unternehme, um den radikalen Elementen unter den Polen schärfer auf die Finger zu sehen. Die gewählten polnischen Vertreter in den kirchlichen Gremien Bottrops enthielten sich in der Folge aber jeglicher radikaler Tendenzen, nachdem sie  der zuständige Pfarrer deutlich vor deutschfeindlichem Verhalten gewarnt und auf seine Befugnisse verwiesen hatte.
Bottrop hatte im Gegensatz zu anderen Ruhrgebiets-Gemeinden kaum masurische Zuwanderer. Aber  im Bottroper Gemeindegebiet lebten zahlreiche Familien und Arbeiter aus dem südlichen Teil des Kreises Ratibor, dem nach 1920 so genannten "Hultschiner Ländchen", und deren Haussprache war ein besonderer slawischer Dialekt, den die Bewohner selbst als Mährisch bezeichneten, der aber nach langer Zugehörigkeit zu Preußen mit vielen deutschen Ausdrücken angereichert war. Im Gegensatz zu den anderen Oberschlesiern aus dem Bistum Breslau gehörten die Herkunftsgemeinden im Hultschiner Ländchen zum Erzbistum Olmütz. Während die polnischen Bergarbeiter bereits 1886 den St. Barbara Knappen-Verein gegründet hatten, wurde für die mährischen Gemeindemitglieder 1905 der "Mährische katholische Arbeiterverein St. Cyrill und Method" gegründet, der bald 150 Mitglieder zählte. Der Erzbischof von Olmütz sandte zur Betreuung dieser mährischen Arbeiter und ihrer Familien regelmäßig Priester zum Beichte hören und zur jährlichen Mission. Im Gegensatz zu vielen polnisch-sprachigen Oberschlesiern waren die Mähren ähnlich den Masuren preußisch-deutsch gesinnt und protestierten nach dem 1. Weltkrieg heftig gegen die Einverleibung ihres Gebiets ohne Volksabstimmung in die neu geschaffene Tschechoslowakei.
Bei weiterem Zuzug von polnischen Arbeitern und ihren Familien wurde in den Folgejahren das Angebot an polnischen Messen und Andachten in Bottrop weiter ausgebaut. Um 1913  gab es in Herz Jesu jeden Sonntag polnische Gottesdienste. Die Gemeinden St. Johannes in der Boy und die neue Liebfrauenkirche im Ortsteil Eigen hatten zwar keinen fest angestellten polnischsprachigen Priester, aber ein Franziskaner-Pater aus Düsseldorf besuchte regelmäßig diese Gemeinden und hielt Messen mit polnischer Predigt. Das Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen blieb aber weiter bestehen und im „Wiarus Polski“ erschienen regelmäßig  Berichte aus Bottrop über Differenzen zwischen den Volksgruppen. Umgekehrt beschuldigten deutsche Kritiker, dass manche Polen polnischen Nationalismus unter dem Deckmantel kirchlicher Forderungen verbreiteten, obwohl diese polnischen Anführer selbst nicht zur Kirche gingen.[17]
 

2.7 Der Kampf der Polen um polnisch-sprachige Seelsorge im Ruhrgebiet – eine Bilanz gegen Ende des 1. Weltkrieg

Auch an anderen Orten des Ruhrgebiets gestaltete sich die Polenseelsorge schwierig, weil staatliche Stellen stets nationalpolnische Aktivitäten vermutete. In den "Borbecker Beiträgen", dem Mitgliederbrief des Kultur-Historischen Vereins Borbeck e.V. schildert Andreas Körner unter dem Titel "Zwischen nationalen Mühlsteinen" sehr anschaulich die Probleme der Polenseelsorge in Borbeck und Dellwig (heute Stadtteile von Essen). Die Tätigkeit auch der deutschen Seelsorger, die der polnischen Sprache mächtig waren, wurde überwacht und bei zu großem Engagement wurden Priester versetzt. So sollte der Priester Matthias Lambertz nach der Priesterweihe in Köln zunächst in Gnesen die polnische Sprache erlernen und wurde dann in Oberhausen und Borbeck als Priester eingesetzt. Nach anfänglicher Zurückhaltung der polnischen Bevölkerung errang er aber bald deren Vertrauen und  seine Gotttesdienste mit Predigt und Gesang in polnischer Sprache wurden so gut besucht, dass die Kirchen überfüllt waren. Der Oberpräsident der Rheinprovinz beschwerte sich 1911 beim Erzbischof in Köln, dass Lambertz in Oberhausen, Borbeck und Dellwig zu viele polnischsprachige Messen abhalte und das an Vormittagen, obwohl diese höchstens alle 14 Tage Nachmittags stattfinden sollten. An diese Geheimabsprache der preußischen Behörden mit den Bischöfen hatte sich Lambertz nicht gehalten und blieb seiner Linie treu, entwickelte aber keine über die Seelsorge hinausgehenden Aktivitäten. Anders der Dortmunder Franziskanerpater Basilius Mazurowski. Er gründete eine Rosenkranzbruderschaft, die auch Weiterbildungsveranstaltungen durchführte, er richtete eine Bibliothek mit Werken polnischer Schriftsteller ein und gründete ein Orchester und einen Gesangverein. Obwohl der Pater stets im Sinne einer versöhnlichen Haltung zwischen Deutschen und Polen handelte, wurde er aufgrund falscher Anschuldigungen nach Mönchengladbach versetzt. Trotz einer Rechtfertigungsschrift an den Bischof wurde die Versetzung nicht zurück genommen.

Im gesamten Ruhrgebiet setzten sich die Polen weiterhin entschieden für die Einrichtung polnisch-sprachiger Gottesdienste ein und konnten sich bei entsprechendem Bevölkerungsanteil in den kirchlichen Vertretungsgremien auch anteilmäßig durchsetzen. 1912 betrug der Anteil der Polen an der gesamten Ruhrgebiets-Bevölkerung 6,1% und in den Kirchenvorständen waren Polen auch mit 6,1% vertreten, in den Gemeindevertretungen mit 6%.
Im Jahre 1911 waren über 50 polnisch-sprechende Priester im Ruhrgebiet tätig. Die katholische Kirche bemühte sich ernsthaft, entsprechend den staatlichen Auflagen deutsche Geistliche mit guten Polnisch-Kenntnissen auszubilden. Das Priesterseminar in Paderborn machte 1916 Polnisch zum Pflichtfach. Schließlich gab es um 1918 in den katholischen Kirchen des Ruhrgebiets 75 polnisch-sprechende Priester, die etwa 100 Kirchengemeinden betreuten.
Damit war die seelsorgerische Betreuung zumindest gewährleistet und wurde von staatlicher Seite auch nicht in Frage gestellt. Allerdings hatte der preußische Staat inzwischen recht rigide Vorschriften erlassen. So durfte lediglich der vorbereitende Unterricht zur 1. Beichte und Kommunion auf polnisch erteilt werden, aber der allgemeine Religionsunterricht an Schulen musste auf deutsch erfolgen. Auch war es nicht erlaubt, Taufen, Eheschließungen und Beerdigungs-Gottesdienste  auf polnisch abzuhalten. Alle Bitten um Zugeständnisse waren bis 1918 erfolglos. [18]

2.8 Die Sondersituation der Masuren 

Die protestantischen Masuren grenzten sich stets von den katholischen Polen ab. Bereits 1880 kam ein Drittel der Bevölkerung Gelsenkirchens aus den Ostprovinzen, die überwiegende Mehrheit davon waren Masuren, die vor allem aus dem Kreis Ortelsburg kamen, was dem Ortsteil Schalke den Namen Klein-Ortelsburg einbrachte.                              
Aufgrund der mangelnden deutschen Sprachkenntnisse wünschten auch die Ruhrmasuren, ähnlich wie die katholischen Polen, muttersprachliche Seelsorge. Im Ruhrgebiet wurde jedoch in allen evangelischen Kirchen ausschließlich deutsch gepredigt. Die evangelischen Konsistorien waren zunächst auf diese Masseneinwanderung aus den Ostprovinzen nicht vorbereitet und die protestantischen Landeskirchen erkannten lange Zeit nicht die Notwendigkeit einer speziellen masurischen Seelsorge. Im Unterschied zur katholischen Kirche kümmerte sich die staatliche Obrigkeit jedoch intensiv um die Integration der Masuren und förderte deren Treue zu Kaiser und Reich. Sie erhielten Ende des 19. Jahrhunderts in den evangelischen Gemeinden masurisch-sprachige Geistliche, die sich um diese Migranten-Gruppe kümmerten. Teilweise konnte die masurisch-protestantische Arbeiterschaft auch als Mitglieder seit 1882 in Gelsenkirchen existierenden evangelischen Arbeitervereine geworben werden. Neben der Förderung einer christlichen Gesinnung, geselliger Unterhaltung und Belehrung wollten diese Vereine auch den Patriotismus ihrer Mitglieder fördern und "ein friedliches Verhältnis unter Arbeitgebern und Arbeitnehmern […] pflegen". [19]
Neben der unterschiedlichen Mentalität der zwei polnischsprachigen Gruppen gab es eine große Gemeinsamkeit zwischen den katholisch-polnischen Arbeitsmigranten und den protestantischen Masuren: beide Gruppen waren tief religiös und stellten die Belange ihres Glaubens über alles.
Wichtig für das Verständnis der Religiosität der Masuren ist die Tatsache, dass sie vom Pietismus geprägt waren, d. h. einem spezifischen Frömmigkeitskult der protestantischen Kirche, wir würden heute sagen einem fundamentalistischen biblischen Offenbarungsverständnis. Damit verbunden war eine Betonung der individuell bewusst gewordenen Sündenschuld und ein Bemühen um ein neues Leben der Heilung nach dem Tode. Für das religiöse Leben der Masuren resultierte daraus eine klare Abgrenzung zu den Lastern der säkularen Welt.
Viele dieser Masuren schlossen sich einer in Ostpreußen gegründeten Gemeinschaftsbewegung an – der  Gromadkibewegung. Sie verfolgte einen Kurs des „Dazwischen“,   d. h. sie wollten weiter ihre Muttersprache pflegen und vor allem bei der Ausübung des Glaubens beibehalten, zugleich aber die Treue zum preußisch-deutschen Kaiser bekunden und sich gegen die national denkenden Polen abgrenzen. Gromadki, auf deutsch „Häuflein“, waren lose kleine Gruppen, Gebets- und Andachtskreise. deren Mitgliedern die Lehre der Amtskirche nicht genügte. Sie hatten oft ein engeres und rigoroseres Frömmigkeitsverständnis und eigene Traditionen entwickelt. Die Gromadki-Mitglieder wurden von kirchlichen Laien geführt. Die Rolle und der Einfluss ihrer Führer, August Chilla oder Christoph Kukat, nahmen im Ruhrgebiet mit der Zeit zu. Dadurch kam es auch zu Auseinandersetzungen mit der evangelischen Amtskirche. Die religiösen Laienbewegungen vermochten allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke, selbstbewusst und emanzipiert gegen die Amtskirche aufzubegehren. Damit forderten sie die Kirche zu einer verstärkten Masurenseelsorge heraus. Sie begann ihrerseits Maßnahmen zu ergreifen, um die Abwanderung zu den Gromadki zu verhindern. Mit Hilfe eigener masurischer Gemeindehelfer (polnisch-masurisch: koscielnik) sollten auch von landeskirchlicher Seite außergottesdienstliche Andachten in polnischer Sprache veranstaltet werden. Ihre Aufgabe war es, die zerstreut lebenden Masuren zu betreuen, um die zweisprachigen Gemeindepfarrer zu entlasten. Der Gelsenkirchener Pfarrer Oskar Mückeley brachte gegenüber der polnischen Sprache und den Gromadki viel Verständnis auf. Vehement verteidigte er den kirchlichen Auftrag zur muttersprachlichen Seelsorge, solange dieser erforderlich sei. Er sagte:" Mit vollen Segeln geht auf der ganzen Linie die Überleitung zum Deutschtum von statten. Wir dürfen aber auch nicht in nervöser Ungeduld vor der Zeit mit der kirchlichen Fürsorge abbrechen. " Vor allem Mückeley ist es zu verdanken, daß sich die masurische Seelsorge im Ruhrgebiet seit der Jahrhundertwende spürbar verbesserte. Das westfälische Konsistorium erklärte sich bereit, mehr finanzielle Mittel für die polnischsprachige Seelsorge bereitzustellen. 1913 befanden sich zweisprachige Gemeindepfarrer in den Gemeinden Gelsenkirchen, Gelsenkirchen-Schalke, Gelsenkirchen-Blumke, Gelsenkirchen-Bismarck, Wanne, Bochum, Erle-Middelich und in der rheinischen Kirche in Rotthausen. Neben 14 Gemeinden, die zweisprachige Pfarrer und Kirchendiener für die masurische Seelsorge unterhielten, wurden in 16 weiteren Gemeinden polnische Gottesdienste gehalten.[20]
Da die Masuren jedoch – wie schon dargestellt – gute preußische Bürger waren und sich klar von den katholischen und vor allem nationaldenkenden Polen abgrenzten, entwickelte sich daraus bald ein Generationen-Problem. Die Eltern legten Wert darauf, dass ihre Kinder in der Schule deutsch lernten und die Kinder sprachen deshalb in der Regel auch nur noch deutsch untereinander. Sie hatten keine Probleme mit der deutschen Predigt. Anders zunächst bei den erwachsenen Migranten, die oft nur den masurischen Dialekt perfekt beherrschten.                                                          
Daraus folgte, dass Masuren der 2. Generation insgesamt integrationswilliger und aufstiegsorientierter waren, als die katholischen  Polen. Auch gaben masurische Familien  wesentlich früher ihren Rückkehrwunsch nach Ostpreußen auf. 

3.0 Ausweitung der polnischen Aktivitäten im Ruhrgebiet – Gründung kirchlich nicht gebundener Organisationen

Die beschriebenen Differenzen und Entwicklungen führten dazu, dass die polnischen Migranten sich nicht mehr damit zufrieden gaben, sich nur in katholisch-kirchlichen Vereinen zu organisieren. Darüber hinaus entwickelten sie eine Vielzahl weiterer Aktivitäten, um ihre Nationalität in fremder Umgebung zu erhalten. Auf die wichtigsten möchte ich nun eingehen:                                  

3.1 Polnisch-sprachige Tageszeitung „Wiarus Polski“

Die täglich in polnischer Sprache erscheinende Zeitung Wiarus Polski (zu deutsch: polnischer Knappe, auch alter polnischer Schutzpatron), wurde 1890 von dem schon erwähnten polnischen Seelsorger Dr. Franciszek Liss  gegründet.  Seit 1904 lautete der Untertitel im Kopf der Zeitung: „Für die Polen in der Fremde zu deren Bildung sowie für nationale, politische und die Lohnarbeit betreffende Angelegenheiten“
                                
                                                      Bild 15: Wiarus Polski

Sie stand zunächst der Zentrumspartei nahe und war ein Kampfinstrument gegen sozialdemokratische Ideen (So schrieb Pfarrer Liss über seine Motive: “Es ist mir gänzlich gelungen, 25.000 – 30.000 Polen vor der Pest des Sozialismus zu bewahren“)
Der Wiarus Polski wurde aber zunehmend auch ein Instrument, um den Zusammenhalt und die Herausbildung eines nationalpolnischen Bewusstseins unter den im Ruhrgebiet lebenden Polinnen und Polen zu fördern
Sie war zwar keine religiöse Zeitung, aber deutlich katholisch ausgerichtet, einmal wöchentlich erschien die achtseitige Beilage „Nauka Katolicka“ (Katholische Lehre). Außerdem war sie wichtig als Nachrichten- und Ankündigungsblatt für polnische Vereine und Veranstaltungen
Als ab 1893 der „Wiarus Polski“ zum wichtigsten Organ der polnisch - katholischen Vereine avancierte, wurde die Zeitung von staatlicher Seite misstrauisch beobachtet. Der Druck seitens der preußischen Behörden auf Franciszek Liss wuchs zunehmend. bis er - wie geschildert - 1894 vom Paderborner Bischof von seinen Aufgaben als “Polenseelsorger“ abberufen, in die Diözese Kulm zurück versetzt und angewiesen wurde nicht mehr für den “Wiarus Polski” tätig zu sein. Der Bischof konnte nicht ahnen, dass Franz Liss ausgerechnet durch seine Abberufung weit über die Grenzen des Ruhrgebietes hinaus zu einem polnischen Helden wurde.
Bereits am 1. April 1893 kam Jan Brejski an die Spitze des Blattes, der die polnisch-nationale Linie fortsetzte. Jan Brejski holte auch seinen Bruder Anton nach Bochum. Ihm übertrug Jan Brejski die Redaktion, er selbst übte aber weiterhin einen politischen Einfluss auf die Zeitung aus. Mit der Übernahme der Zeitung durch die beiden Brüder wurde aus der vorwiegend religiösen Zeitung ein radikales national-polnisches Organ. Stärker als je zuvor und mit erhobenem Zeigefinger mahnte die Zeitung das polnische Bewusstsein an: So schrieben die Herausgeber am 20. Juni 1893

 “Polnische Eltern! Lehrt eure Kinder polnisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben! Es darf keinen Polen geben, der es seinem Nachwuchs erlaubt, deutsch zu werden!“

Der „Wiarus Polski“ verfügte über ein Netz lokaler Autoren, die aus dem Leben der vielen katholisch-polnischen Vereine berichteten. Diese Vereine waren in ihren entsprechenden Kirchengemeinden tätig und informell durch den “Wiarus Polski” verbunden. So konnte man in der Zeitung über Sitzungstermine, anstehende Jubiläen oder organisatorische Belange der Vereine lesen. Der “Wiarus Polski“ informierte über aktuelle Ereignisse in den Städten und Gemeinden des Ruhrgebietes und aus den 3 polnischen Teilungsgebieten.

Der nationalpolnische Kurs verstärkte sich je größer die politischen Spannungen im Vorfeld des 1. Weltkriegs wurden. Am 12. Juni 1913 veröffentlichte der Wiarus Polski diese 10 Gebote für Polen im Ruhrgebiet
                                          Bild 16 „10 Gebote für Polen1913“

Deutlicher kann eine Abgrenzung von Zuwanderern zur neuen Heimat kaum ausfallen.

Eine weitere wichtige Maßnahme zur Erhaltung polnischer Mentalität und Sprache war die

3.2 Gründung polnischer Sokol-Turnvereine.

Mit der Gründung eigener Turnvereine sollte verhindert werden, dass polnische Kinder und Jugendliche in deutsche Vereine gingen und dort germanisiert werden. Die Sokol-Bewegung kam ursprünglich aus dem heutigen Tschechien und verbreitete sich bald in anderen slawischen Gebieten. 1899 wurde in Oberhausen der erste „Sokol-Turnverein“ im Ruhrgebiet gegründet. Sehr schnell kamen weitere Vereine im Ruhrgebiet hinzu. Die Sokolvereine schlossen sich im „Gau“ Ruhrgebiet zusammen. Die Gauleitung hatte ihren Sitz zunächst in Oberhausen, seit 1902 in Herne. 1914 gab es im Ruhrgebiet 139 sogenannte Sokol-Nester mit ca. 5.500 Mitgliedern, das waren 50% aller Sokol-Mitglieder auf dem damaligen deutschen Staatsgebiet.[21]

Wegen der national-polnischen Ausrichtung wurden die Sokol-Vereine  besonders intensiv von der preußischen Polizei beobachtet, da dort nicht nur Sport getrieben wurde. Übungsmärsche und Scheibenschießen der Mitglieder wurden als „paramilitärische Ausbildungen“ betrachtet.. Auf den Versammlungen  wurden auch  Vorträge zur polnischen Geschichte, Sprache und Literatur gehalten. Öffentlich Aufmärsche wurden bald polizeilich verboten.
Neben den Turnvereinen war die

3.3 Polnische Chorbewegung

ein wichtiger Bestandteil polnischen Vereinslebens. Die ersten Chöre entstanden innerhalb der polnisch-katholischen Vereine, begannen dann aber, sich in eigenständigen Vereinen zu organisieren. Die Chöre hatten für die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins der Ruhrpolinnen und Ruhrpolen eine enorme Bedeutung. Sie sangen auf den Vereins-, Stiftungs-, Weihnachts-, Oster- und Erntedankfesten kirchliche Lieder wie auch Heimatlieder und Volkslieder in polnischer Sprache. Oftmals waren auch kleine Laienspielgruppen angeschlossen.
 
 
Bild 17: Polnischen Gesangvereins „Mickiewicz“ gegründet 1898 in Oberhausen.
(Quelle: Porta Polonica /Ruhrmuseum Essen)
 
Diese Chöre übten eine große Anziehungskraft aus und viele Polinnen und Polen wurden dort Mitglied. Im Ruhrgebiet gab es vor dem 1. Weltkrieg über 200 Chöre einschließlich polnischer Kirchenchöre. Viele der Chöre schlossen sich 1906 im Verband der Gesangsvereine in Westfalen und Rheinland (Związek Kół śpiewawczych Westfalii i Nadrenii) zusammen, der seinen Sitz in Gelsenkirchen hatte.

3.4 Der Bund der Polen in Deutschland                        

Die Brüder Jan und Anton Brejski vom  Wiarus Polski gründeten zusammen mit anderen aktiven Polen im August 1894 in Bochum den Bund der Polen in Deutschland (Związek Polaków w Niemczech), kurz Polenbund genannt. Er sollte als Dachorganisation für alle in deutschen Provinzen lebenden Polinnen und Polen fungieren, blieb allerdings weitgehend auf das Ruhrgebiet beschränkt. 

                                       Bild 18: Rodlo-Zeichen
Später wurde er unter diesem Rodlo-Zeichen  bekannt. Da das Zeigen von Fahnen mit dem polnischen Adler verboten war, wählte man dieses Zeichen aus. Es symbolisiert den Lauf der Weichsel, den Fluss der alle drei Teilungsgebiete der Polen durchfließt mit einem besonderen Platz für Krakau als Wiege polnischer Kultur.                             
Der Bund spielte in den ersten Jahren seiner Existenz eine bedeutende Rolle, weil er den Forderungen und Bedürfnissen vieler Polinnen und Polen öffentlich Ausdruck verlieh. So stellte er Redner auf Versammlungen polnischer Vereine, auf denen die Belange der Ruhrpolen diskutiert und formuliert wurden, organisierte öffentliche Protestversammlungen und verbreitete Stellungnahmen zu wichtigen, die Polen betreffenden Probleme. Diese Aktivitäten wie auch die Berichterstattung darüber führten nicht selten zu strafrechtlichen Verfolgungen durch die Behörden. So wurde beispielsweise Anton Brejski am 1903 wegen seiner Berichterstattung über eine  Versammlung des Polenbundes durch die preußische Polizei zu „200 M ersatzweise 20 Tagen Haft“ verurteilt. Der Polen-Bund forderte die Berücksichtigung der polnischen Sprache in allen Bereichen, wo Polen in großer Anzahl arbeiteten und lebten, so z. B. dass alle staatlichen Verordnungen in die polnische Sprache zu übersetzen sind, die polnische Sprache in den Zechen zuzulassen und in der Bergbauschule in Bochum eine polnische Abteilung einzurichten sei. Die grundsätzliche Ausrichtung des Polenbundes war nationalpolnisch, man forderte die Polen auf, deutsche Vereine wie auch Organisationen zu meiden und sich nur in eigenen Vereinen zu organisieren. 1910 schloss sich dann der Polenbund mit der 1905 in Posen gegründeten, ähnlich ausgerichteten Organisation „Straż“ (Die Wacht) faktisch zusammen und ging 1912 auch offiziell darin auf.[22] Erst 1922 unter anderen Voraussetzungen wurde der Bund der Polen in Deutschland neu gegründet. (siehe Kapitel 5)

3.5 Die polnischen Gewerkschaft ZZP                                                 (Zjednoczenie Zawodowe Polskie = Polnische gewerkschaftliche Vereinigung)

Innerhalb der deutschen Gewerkschaften – des sozialdemokratischen „Alten Verbandes“ ebenso wie des christlichen „Gewerkvereins“ – fühlten sich die polnischen Mitglieder zu wenig berücksichtigt.
Auf der deutschen Seite war den Gewerkschaftlern des Ruhrgebiets die Konkurrenz der Ruhrpolen stets ein Dorn im Auge – sie fürchteten Lohndumping und somit für ihre deutschen Mitglieder sinkende Löhne. Deshalb verlangten sie einerseits den Schutz der „ausländischen Lohnsklaven“ vor zu geringen Löhnen. Andererseits wurde „Pollacke“ zu einem weitverbreiteten Schimpfwort, polnischsprachige Arbeiter wurden als „Lohndrücker“, „Kriecher“ und „Streikbrecher“ bezeichnet. Der Satz „Meesterchen, kann ich machen Iiberstunden“ wurde immer wieder zitiert.
So schrieb das sozialdemokratische Bochumer Volksblatt im April 1907 – was wiederum von polnischer Seite genüsslich zitiert wurde – von "Leuten, die man aus der Pollackei hergeschleppt" habe und die trotz mangelnder Sprachkenntnisse nach wenigen Monaten als Vollhauer beschäftigt worden seien. "Erst als es sich allzu oft wiederholte, dass Leute, die erst vor kurzem die Mistgabel, ihr bisheriges Handwerkszeug, fortgelegt hatten, zu Vollhauern gemacht wurden", habe die Bergbehörde die Beherrschung der deutschen Sprache für verantwortungsvolle Stellen zur Pflicht gemacht.[23]
Denn im Jahre 1899 wurde durch das Gesetz vom 25. Januar 1899 die Einstellung und Beförderung von Bergleuten von der Beherrschung der deutschen Sprache abhängig gemacht. Der preußische Staat wurde dabei durch die Zechenbesitzer und die christliche Gewerkschaft unterstützt.
Im Laufe dieses Jahres 1899 verschärfte sich die Situation im Bergbau. Am 23. Juni 1899 traten junge polnische ungelernte Schlepper, Bremser und Pferdejungen auf der Zeche „Von der Heydt“ in Herne in den Ausstand. Auslöser der Aktion war eine Erhöhung ihrer Knappschaftsbeiträge um mehr als 100 %. Dieser Streit weitete sich schnell auf andere Schachtanlagen im Herner Revier aus. Man sprach von der „Polenrevolte“. Das preußische Militär wurde gerufen und griff hart durch. Bei blutigen Auseinandersetzungen zählte man vier Tote und 20 Schwerverletzte, 190 Arbeiter wurden entlassen. Erst als aus Münster weiteres Militär eintraf und massive Präsens zeigte, wurden die Unruhen in der Region eindämmt.

Bild 19: Militärpatrouille vor der Castroper Zeche Erin anlässlich der "Herner Polenkrawalle“ 1889. - Stadtarchiv Herne.

In der  „Deutsche Berg- und Hüttenarbeiter-Zeitung“ vom 8.7.1899 erschien eine reißerische Schilderung des Aufeinandertreffens von Streikenden und Polizei am 27. Juni 1899 in Herne.

 [...] Wehgeschrei der Niedergesäbelten und Verletzten erfüllt die Luft, obwohl flüchtend ereilt die Männer, Frauen und Kinder doch der berittene Gendarm und sausend blitzt die Klinge in der Luft, wo sie hinfällt spritzt warmes Menschenblut. Auf schmutziger Karre werden dann nach dem Schluss des Dramas die unglücklichen Opfer vom Schlachtfeld gefahren. [...] [24]
Nicht zuletzt wegen solcher Vorkommnisse und der mangelnden Unterstützung durch die deutschen Gewerkschaften wuchs unter vielen polnischen Bergleuten und Hüttenarbeitern das Gefühl, ohne ausreichende Vertretung seitens der deutschen Arbeiterorganisationen zu sein. Polnische Arbeiterfunktionäre kamen daher zu dem Entschluss, dass durch die berufliche Organisierung in deutschen Gewerkschaften die Polen nicht nur den Verlust ihrer Tugenden und Gebräuche riskierten, die sie in zahlreichen polnischen Vereinen pflegten, sondern dass die gewerkschaftliche Organisierung den Polen auch nicht den geringsten Nutzen bringt. Vielmehr kam man zur Überzeugung, die deutschen Gewerkschaften würden die Polen nur als Reserve und Beitragszahler nutzen.
Da andererseits der Bund der Polen keine Breitenwirkung bei den polnischen Arbeitern erreichte, erfolgte 1902 die Gründung der polnischen Gewerkschaft  ZZP. Der Gewerkschaft ZZP gelang es im Gegensatz zum Polenbund, sich eine deutlich breitere Basis unter den polnischen Arbeitern zu verschaffen. Mit wachsender Stärke führte sie auch wichtige, bisher vom Polenbund wahrgenommene Aufgaben durch: öffentliche Kundgebungen zu Problemen der polnischen Bevölkerung und Formulierung von Forderungen an die deutsche Öffentlichkeit. In ihrem Statut hatte die ZZP aber auch ausdrücklich festgelegt, dass es ihre Aufgabe ist, den Bildungshorizont ihrer Mitglieder zu erweitern und Bildungsarbeit für ihre Mitglieder zu leisten. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden Mitglieder sowohl sprachlich, aber vor allem hinsichtlich der Gesetze und Verordnungen in der Arbeitswelt geschult.
Auch beim Aufbau der polnischen Gewerkschaft war der Wiarus Polski maßgeblich bei der Organisation beteiligt. In de Folge gab die ZZP eine eigene Zeitung unter dem Namen „Zjednoczenie“ (Vereinigung) heraus, die bereits 1906 eine Auflage von 36.000 Stück erreichte. Die ZZP „war eine Organisation, die nicht nur den Schutz der Arbeiter als ihre Aufgabe ansah, sondern auch die Heranbildung entsprechender gesellschaftlicher Aktivisten unter den Emigranten. Sichtbarer Erfolg dieser Bemühungen zeigte sich z. B. darin, dass es 1913 aus den Reihen der ZZP 32 Knappschaftsälteste und 29 Beisitzer der Berufsgerichte gab. Die rasante Mitgliederentwicklung der ZZP zeigte, dass ihre Gründung den Bedürfnissen vieler polnischer Arbeiter entsprach. Sie wurde schnell zur stärksten Organisation der ruhrpolnischen Bewegung. Gab es 1903 bereits 9.600 Mitglieder, so waren es 1905/06 schon 25.000, 1910 über 38.000 und 1913 fast 80.000.  Im Jahr 1912 war die polnische Organisation mit 5,9 % aller Bergleute im Ruhrgebiet die drittstärkste Gewerkschaft nach dem freigewerkschaftlichen Alten Verband (12,7 %) und dem Christlichen Bergarbeiterverband mit 9 %. In diesem Jahr – wie zuvor schon 1905 - nahm die polnische Organisation, anders als der christliche Bergarbeiterverband, am Streik im Ruhrbergbau teil. Die Stärke der ZZP nahmen sehr schnell auch die deutschen Gewerkschaften zur Kenntnis. Während des großen Bergarbeiterstreiks von 1912 wurde ein zentrales Streikkomitee gebildet, die sogenannte Siebener-Kommission, der zwei Mitglieder der polnischen Gewerkschaft ZZP angehörten.[25]

3.6 Der polnische Querschlag in Bochum

Insgesamt gab es 1912 nach polizeilichen Angaben 875 polnische Vereine – ohne Mitgliedschaft in der Gewerkschaft - mit über 80.000 Mitgliedern (allerdings bei vielen Doppelzählungen). An der Spitze lagen die kirchlichen Arbeitervereine mit circa 30.000 und die vor allem von Frauen besuchten Rosenkranzbruderschaften mit 16.000 Mitgliedern, das Schlusslicht bildeten die Ortsgruppen der  polnischen Sozialdemokraten (PPS) mit nur 408 Mitgliedern.
Fast alle wichtigen polnischen Organisationen hatten ihren Hauptsitz in Bochum.


              Bild 20 Polnischer Querschlag_ das Haus des Wiarus Polski
Für die vielen polnischen Organisationen entstand mit der Zeit ein großer Raumbedarf. Deshalb wurde 1905 ein Komitee für das polnische Haus in Bochum gegründet,  das in den folgenden Jahren in der Lage war, den Kauf von sieben Häusern in der Bochumer  Klosterstraße, heute Am Kortländer, zu organisieren. Sie standen direkt nebeneinander und hatten die Hausnummern 2-14. Diese Häuser wurden zum Sitz fast aller in Bochum ansässiger polnischer regionaler bzw. überregionaler Organisationen. Sie bildeten damit auch das organisatorische Zentrum des organisierten Ruhrpolentums. Deshalb bekam die Klosterstraße im Volksmund den Zweitnamen „Polnischer Querschlag“ oder auch „Klein Warschau
Sitz  polnischer Organisationen im „Polnischen Querschlag[26]:
die Arbeiterbank – Bank Robotników
die Polnische Gewerkschaftsvereinigung – Zjednoczenie Zawodowe Polskie ZZP
eine Filiale der Handelsbank – Kasa deposytowa Bank Handlowy eGmbH
das Ausführendes Komitee – Komitet Wykonawczy
der Bund der Polen in Deutschland – Związek Polaków w Niemczech
die Nationale Arbeiterpartei – Narodowa Partia Robotnicza
die Zentrale der Volksbüchereien – Centrala bibliotek ludowych
das Sekretariat der Schulvereine – Sekretariat Towarzystw Szkolnych
die Redaktion und die Druckerei des Wiarus Polski                                         das Soziale Büro der polnischen  Reichstagsfraktion
die Abteilung Bergbau der polnischen Gewerkschaft ZZP
die gewerkschaftlichen Rechtsberatungs- und Sozialbüros

                    Bild 21 Das Gebäude der Bank-robotnikow, Bochum, Kortländer-Str.

Im Laufe der Zeit  bildete sich unter den Polen des Ruhrgebiets eine sichtbare
 

3.7 polnische Mittelschicht im Ruhrgebiet

heraus, die von den polnischen Vereinigungen durch Schulungen gefördert wurde. Auch polnische Geschäftsleute und Handwerker aus den preußischen Ostprovinzen zogen ins Ruhrgebiet, um hier eine Existenz zu gründen. Die polnischen Organisationen gaben daraufhin durch Aufrufe die Parole aus: „Kauft bei euren Landsleuten“. So bildete sich mit der Zeit ein fester Stamm an Geschäften und Handwerksbetrieben heraus, darunter 600 Kolonialwarenhändler (Tante Emma-Läden), 100 Schuster, 70 Schlachter (wie oben angeführt hielten viele polnische Bergarbeiter im Hinterhof des Hauses ihre Bergmannskuh, Schweine und Kaninchen usw.) 70 Buchhandlungen, 60 Bäcker, 50 Friseure, 35 Läden für Herrenbekleidung, 20 Hersteller alkoholischer Getränke, 20 Möbelhändler und 16 Tischler. 1912 hatten im polnischen Querschlag in Bochum auch drei polnische Ärzte ihre Praxen und ein polnischer Rechtsanwalt seine Anwaltskanzlei
Der ruhrpolnische Mittelstand versuchte selbstbewusst, seine Stärke auch in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Deshalb organisierte er in Bochum für die Woche vom 19. bis 27. Juli 1913 eine Industrieausstellung. Dafür mietete man die in Bochum zu der Zeit größte Lokalität, den Schützenhof an der Castroper Straße an. 130 polnische Firmen hauptsächlich aus dem Ruhrgebiet stammend, beteiligten sich an der Ausstellung, 25.000 Besucherinnen und Besucher sahen sie.
1904 organisierte sich der polnische Mittelstand im „Verein polnischer Kaufleute und Gewerbetreibender“, ebenfalls mit Hauptsitz in Bochum und Ortsgruppen in anderen Ruhrgebietsstädten.
Unter den von Polen gegründeten Ruhrgebiets-Banken war die oben angeführte und auf Initiative der Gewerkschaft ZZP gegründete Bank Robotnikow (Arbeiterbank) die erfolgreichste, während andere Bankengründungen in Konkurs gingen oder ihre Zweigstellen im Ruhrgebiet wieder schlossen.[27]

3.8 Politische Aktivitäten

Aus den preußischen Ostprovinzen mit polnischer Bevölkerung gab es seit der Reichsgründung 1871 polnische Vertreter im Deutschen Reichstag, die dort die Polnische Fraktion bildeten. Mit 20 Abgeordneten war diese Fraktion nach der Wahl 1907 am stärksten vertreten, in der übrigen Zeit schwankte die Zahl der gewählten polnischen Abgeordneten zwischen 13 und 18. Nach der Reichsgründung stellten vor allem Großgrundbesitzer und katholische Geistliche die Abgeordneten, während nach 1903 bürgerliche und nationalgesinnte Abgeordnete den Ton angaben. Die Fraktion wandte sich insbesondere gegen die antipolnische Politik und die Germanisierungsversuche in den preußischen Ostprovinzen. Zunächst bestand in Oberschlesien ein enges Verhältnis zur Zentrumspartei Nach 1890 kam es zwischen der polnischer Fraktion und der Zentrumspartei in Oberschlesien zu einer Konkurrenzsituation. Die polnischen Abgeordneten schlossen sich nun der polnischen Fraktion an. Ihr bekanntester Anführer war Wojciech Korfanty, der bis 1903 der Zentrumsfraktion angehörte. Er wandelte sich immer mehr zum nationalistischen Vertreter der Polen und auf seine Initiative hin wurde am 7. Oktober 1903 in Beuthen (Oberschlesien) die Polnische Nationaldemokratische Partei (Polenpartei) gegründet. Sie war ein Zusammenschluss der zuvor konkurrierenden Organisationen "Polnischer Wahlverein für Schlesien" (Katolik-Partei) mit dem radikalen "Polnischen Volksverein" unter Führung von Korfanty. Die Partei hatte Schwerpunkte in Westpreußen, Posen und Oberschlesien (vor allem Ostoberschlesien, Landkreis Rybnik, Landkreis Pleß) jedoch auch im Ruhrgebiet.  Als Vertreter dieser Partei konnte Korfanty sowohl 1903 als auch 1907 den Wahlkreis Kattowitz-Zabrze gewinnen.
Aufgrund enger verwandtschaftlicher Kontakte hatten diese Entwicklungen selbstverständlich auch Einfluss auf die Polen des Ruhrgebiets. Zunächst waren die katholischen Polen – auch aufgrund gemeinsamer negativer Erfahrungen durch den Bismarckschen Kulturkampf – fast ausschließlich Wähler der Zentrums-Partei. Auch der Wiarus Polski rief 1893 zur Wahl von Kandidaten dieser Partei auf. Da das Zentrum die polnischen Ziele nach Ende des Kulturkampfes jedoch kaum oder gar nicht unterstützte, wurde am 12. 12. 1898 ein Wahlkomitee für Westfalen gegründet, das den Polen im Ruhrgebiet über den Wiarus Polski Wahlempfehlungen gab. So wurde bei der Reichstagswahl 1903 ein eigener Kandidat -  der Schriftsteller Józef Chociszewski aus Gnesen -  für den ersten Wahldurchgang aufgestellt. Da im Deutschen Reich bis 1918 ein reines Mehrheitswahlrecht galt, empfahl das polnische Wahlkomitee für die notwendige Stichwahl im zweiten Wahlgang Stimmenthaltung, sodass der Zentrums-Partei drei sicher geglaubte Wahlkreise verloren gingen. Bei der Reichstagswahl 1907 erreicht die Polenpartei in der Provinz Westfalen 2,9 %, bei den Wahlen von 1912 sogar 3,4 %.

1907 stellte sich das Ruhr-Wahlkomitee sogar gegen Absprachen zwischen Zentrum und Polenpartei in Schlesien und gegen die Empfehlung des polnischen Zentralwahlkomitees in Posen, das für Stichwahlen  in Bochum, Dortmund und Duisburg zur Wahl des Vertreters der SPD aufgerufen hatte.

Die polnischen Wahlkomitees bekamen in der Folge eine besondere Bedeutung. Die ständige Überwachung aller polnischen Vereine und deren Veranstaltungen überforderte mit der Zeit die deutsche Polizei, die ja jede Rede protokollieren sollte. Deshalb wurde 1908 von der preußischen Regierung ein Vereinsgesetz erlassen und 1909 eine „Zentralstelle für die Überwachung der Polenbewegung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet“ in Bochum eingerichtet. Das neue Vereinsgesetz verbot grundsätzlich den Gebrauch der polnischen Sprache bei öffentlichen Veranstaltungen. Als Antwort und passiven Widerstand erfanden Polen daraufhin die „stummen Versammlungen“. Dabei wurden Tafeln hochgehalten auf denen z. B. stand: „Wir singen jetzt das polnische Lied….“ Ausgenommen  vom Sprachverbot waren jedoch Wahlveranstaltungen. So wurden  zwischen den Wahlterminen oft Wahlversammlungen durchgeführt, die mit Wahlen nur wenig zu tun hatten, aber der Mobilisierung der polnischen Nationalbewegung dienten.[28]

3.9 Polnische Frauen- und Jugend-Organisationen

Außer den polnischen Chören waren die verschiedenen polnischen Organisationen im Ruhrgebiet von Männern dominiert. Dies lag zum einen daran, dass zunächst ausschließlich Männer angeworben wurden und Frauen erst später nachzogen. Zum anderen war es Frauen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen bis 1908 verboten, Mitglied einer politischen Organisation zu werden und viele der polnischen Vereine, auch der kirchlichen polnisch-katholischen Vereine von der preußischen Polizei zu politischen Vereinen erklärt wurden. Schließlich gab es im deutschen Kaiserreich auch kein Frauen-Wahlrecht.  
Erste Frauenvereine wurden ab 1907 gegründet.  Die Frauenvereine sollten den polnischen Müttern bewusst machen, dass sie in erster Linie für das Erlernen der polnischen Sprache und Kultur und damit der Entwicklung einer polnischen Identität der Kinder verantwortlich waren. Aufgabe der Vereine war z. B. gemäß den Statuten des 1914 gegründeten Polinnenverein „Königin der Krone Polens“ in Bochum-Langendreer: Die gemeinsame Belehrung auf katholischer und nationaler Grundlage, die Pflege der Muttersprache und der heimischen Sitten, die gegenseitige Hilfe bei Krankheits- und Todesfällen und die gegenseitige Hilfe bei der Erziehung der Kinder.
1914 gab es schon 110 Frauenvereine mit ca. 8.000 Mitgliedern. Im Mai 1914 wurde dann ein „Verband polnischer Frauenvereine im Westen Deutschlands“ gegründet, aber seine Entwicklung wurde durch den Beginn des 1. Weltkrieges stark behindert. Der Sitz dieses Frauenverbandes war Wanne.
Aber auch die Arbeit der Frauenvereine wurde durch den preußischen Staat streng überwacht. Als beispielsweise 1914 eine polnische Lehrerin aus Krakau in Bottrop vor mehr als 300 Frauen einen Vortrag hielt, um die Bemühungen der Eltern zu unterstützen,  polnische Sprache und Kultur an ihre Kinder weiter zu geben, wurde sie und 2 Organisatorinnen angeklagt. Sie hatten versäumt, die Veranstaltung laut Gesetz in der Zeitung anzukündigen. Die drei Frauen wurden zu Geldstrafen und Gefängnis von 3 bis 10 Tagen verurteilt.[29]
Auch die Gründung von Jugendorganisationen wurde vom preußischen Staat erheblich behindert. Dennoch wurde am 20. Juni 1909 in Bochum der Verband Polnischer Jugendorganisationen (Związek Polskich Organizacji Młodzieży) gegründet.  Drei Jahre später waren dem Verband 19 Jugendorganisationen mit insgesamt 1.345 Mitgliedern beigetreten. Bereits 1903 wurde der „Verein für Ferienkolonien“ in Bochum gegründet, der durch Ferienverschickung in rein  polnische Gebiete versuchte, die Bindung polnischer Jugendlicher an die polnische Heimat sowohl sprachlich wie auch gefühlsmäßig zu entwickeln.
Während die Organisation von Frauen noch relativ gut gelang, waren die Bestrebungen bei Jugendlichen nur vereinzelt erfolgreich.
Die weitere Entwicklung der Arbeit unter Jugendlichen wurde durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges und der damit verbundenen Einziehung der polnischen jungen Männer in die preußische Armee jäh unterbrochen.[30]
 

4.0 Fazit für die Zeit bis zum Ende des 1. Weltkriegs

4.1 Vorurteile und Konflikte


Damals wie heute – im Verhältnis zu Türken und Muslimen -  war das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zugezogenen, zwischen Deutschen und Polen (bzw. auch zu Masuren und Oberschlesiern) oft von Misstrauen und Vorurteilen bestimmt.
Im Gegensatz zu heute war der Staat Vorreiter bei der Bekämpfung aller nationalpolnischen  Aktivitäten.1896 schrieb der Oberpräsident der Provinz Westfalen, Heinrich Konrad von Studt in einer Denkschrift: 
„Die Anhäufung großer Arbeitermassen slawischer Abkunft im rheinisch-westfälischen Industriegebiet berge bedeutende Gefahren. Denn es handele sich um Elemente, welche dem Deutschthume feindlich gegenüberstehen, sich auf einer niedrigen Stufe der Bildung und Gesittung befinden und zu Ausschreitungen geneigt sind“.[31]
Der wilhelminische Überwachungsstaat, der überall seine Informanten hatte, behielt die polnischen Aktivitäten im Ruhrgebiets fest im Visier. So gibt es z. B. einen Bericht des Landrates des Kreises Essen aus dem Jahre 1883 über polnische Arbeiter.  Dort heißt es u. a. hinsichtlich der nördlichen Gemeinden des Kreises Essen (der heutigen Essener Stadtteile Karnap, Altenessen, Katernberg):
„Üppigkeit mit Rohheit gepaart nahmen überhand, die Unreife der …Bildung führte die Arbeiter zur Überschätzung ihrer Fähigkeiten, zum Nichtbeachten der alten bewährten Arbeitsregeln und zur Geringschätzung ihrer Vorgesetzten. Der Überschuss (an Entgelt), der vor allem den Unverheirateten nach Bestreitung des Lebensunterhaltes blieb, führte zu unglaublicher Völlerei und Verwilderung der Sitten, so dass vielfach eine Vermehrung der Polizei notwendig wurde. Streitigkeiten mit blitzenden Waffen zwischen den Arbeitern selbst, Angriffe auf harmlose Personen bildeten stehende Vergnügungen einzelner Rotten.“[32]
Durch die 1909 beim Polizeipräsidenten in Bochum eingerichtete "Zentralstelle für die Überwachung der Polenbewegung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet" verstärkte sich der Druck auf die polnischen Vereine, jede Versammlung wurde überwacht, jede Rede, jedes Lied, jede gezeigte Fahne und Tracht protokolliert.

4.2  Polnisch an deutschen Schulen und in der Öffentlichkeit

Das bereits 1872 vom preußischen Staat  erlassene Schulaufsichtsgesetz, mit dem darin ausgesprochenen Verbot, in der Schule oder privat Polnisch-Unterricht zu erteilen, blieb bis in die Weimarer Republik hinein ein Stein des Anstoßes zwischen Deutschen und Polen. Die preußischen Behörden waren bei der Überwachung des Verbots äußerst rigide und heizten damit latente und offene Konflikte immer wieder an. Nach der offiziellen Statistik gab es 1910 beispielsweise im Kreis Recklinghausen-Land etwa 17 Prozent polnische Schulkinder, in Recklinghausen-Stadt sogar 27 Prozent. Auf eine solche Konstellation musste die Schulpolitik reagieren. Sie sorgte dafür, dass gezielt "Polenklassen" eingerichtet wurden – in denen sich dann aber national besonders gefestigte deutsche Lehrer weniger um die behutsame Integration ihrer Schüler als um deren schnelle "Germanisierung" kümmern sollten.
Noch 1920 warnte die rheinisch-westfälische Landesgruppe der "Vereinigten Verbände heimattreuer Oberschlesier" davor, dass

"Westfalen, dieses kerndeutsche Land, das stolz ist auf die Taten eines Arminius und Wittekind", nicht zu einem gemischtsprachigen Gebiet werden dürfe. "Westfalen ist deutsch und soll es unverfälscht bleiben [...]. Polnische Schulen im Industriegebiet sind eine nationale Gefahr, wir werden sie mit deutscher Zähigkeit bekämpfen und ihre Einrichtung nicht dulden."[33]
Auch in der Presse sorgten die Zuwanderung aus den Ostprovinzen und die Ghettobildung in geschlossenen Siedlungen damals für heftige Debatten, denn in diesen Kolonien lebten die „Ruhrpolen“ weitgehend isoliert von der deutschen Bevölkerung. Diese Isolation erschwerte das Erlernen der deutschen Sprache und eine Integration der Minderheit.  Die liberale Frankfurter Zeitung, die generell mit der preußischen Polenpolitik streng ins Gericht ging, schrieb 1902: "Von den polnischen Einwanderern sind mindestens 60 Prozent in den Wohnkolonien dem ständigen Verkehr mit den Eingesessenen entzogen. [...] Nicht nur die Erwachsenen, auch die Kinder auf der Straße sprechen polnisch. Diese ausgedehnten Werkskolonien sind polnische Enklaven auf deutschem Boden."
Dabei wollte auch der Kommentator der Frankfurter kein Sprachenverbot aufstellen, wie es damals die Nationalisten für die Ostprovinzen forderten. Er schrieb: "Jeder vernünftige Mensch wird den Polen den Gebrauch ihrer Nationalsprache unbeschränkt zuerkennen. Was ist denn dabei, wenn etliche Hunderttausende neben der offiziellen Landessprache noch ihre besondere Nationalsprache kultivieren? Daran geht niemand zu Grunde."[34]

Bei den Polen im Ruhrgebiet wurde durch die Diskriminierung von staatlicher und privater deutscher Seite (Polacken) einerseits und durch die Zusammenkunft in polnischen Vereinen andererseits das nationalpolnische Bewusstsein bei vielen erst gebildet, bei allen jedoch vertieft und die nationale Identität gefestigt.
Diejenigen Ruhrpolen, die keine Vereinsmitglieder waren, wurden von ihren Landsleuten heftig kritisiert und teilweise beschimpft, da sie, statt in die Kirche zur Messe oder Beichte zu gehen,  in Kneipen und Gastwirtschaften sich dem Tanz, Schlägereien, dem Vergnügen und Saufen hingeben würden. Diese Ruhrpolen würden sogar sonntags fast den ganzen Tag und die ganze Nacht arbeiten und danach das schwer verdiente Geld vertrinken. Diese Ruhrpolen wurden von ihren Landsleuten als Sozialisten, Säufer und Kartenspieler bezeichnet. Es hieß, dass sie das körperliche Glück zwar gefunden, aber ihre Seelen verloren hätten. Einige solcher „Sozialisten“ seien aber auch Mitglieder in polnisch-katholischen Vereinen und würden betrunken zu den Sitzungen kommen und Gotteslästerung betreiben. Der Kontakt mit solchen „Sozialisten“ sollte von allen guten Vereinsmitgliedern gemieden werden.[35]

4.3 Resümee

Wie aus den vorstehenden Schilderungen zu sehen, gab es  auf deutscher und polnischer Seite Vorurteile und Verallgemeinerungen. Die privaten und öffentlichen Integrationsdebatten verliefen in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg kaum weniger heftig als heute. Allerdings spielte der Staat mit seinem erheblichen Demokratie-Defizit eine entscheidend andere Rolle. Mit seiner Germanisierungspolitik und den damit verbundenen Verboten und Überwachungen schürte er die Gegensätze zwischen den Volksgruppen. Bei den polnischen Migranten im Ruhrgebiet führte dies zwangsläufig bei vielen zu einer nationalpolnischen Haltung, die oft vor dem Eintreffen im Ruhrgebiet gar nicht vorhanden war.
Andererseits soll aber nicht übersehen werden, dass tatsächlich der Alltag der Ruhrpolen im Grunde genauso wie der Alltag der Aufnahmegesellschaft war. Er war durch harte Arbeit und Alltagssorgen geprägt. Im Arbeitsleben – besonders im Bergbau - zählten Kameradschaft. Im Zusammenleben vor Ort zählte gute Nachbarschaft auch zwischen Deutschen und Polen. Negativ wirkten sich sicher Parallelgesellschaften in abgegrenzten Wohnkolonien aus. Die häufige Ansiedlung der Ruhrpolen in ghettoähnlichen Wohnsiedlungen verhinderte tatsächlich ein Hineinwachsen in die deutsche Gesellschaft. Vor allem beim Freizeitverhalten – besonders der Beteiligung am Vereinsleben und beim Kirchenbesuch – waren die Kontakte zwischen Deutschen und Polen gering. Eine differenziertere Situation lag bei den zugewanderten protestantischen Masuren aus Ostpreußen vor, die integrationswilliger als die meisten katholischen Zuwanderer mit polnischen Wurzeln waren.
Generell muss daher das Fazit gezogen werden, dass bis zum Ende des 1. Weltkriegs die Integration der Ruhrpolen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft gescheitert war. Vielmehr stellt sich die laut Helmut Schmidt gelungene Integration der Ruhrpolen als Modellfall für misslungene Integration heraus. Es kann nicht integrationsfördernd sein, wenn Migranten-Medien ihrem Publikum empfehlen, sich in kulturelle Gettos zurückzuziehen, und die Aufnahmegesellschaft zu ignorieren. Assimilationsdruck der Aufnahmegesellschaft auf der einen und ethnozentrische Subkultur von Einwanderern auf der anderen Seite schaukeln sich so wechselseitig auf. Auch heute noch müssen viele Deutsche lernen, dass der aus der deutschen Tradition der Kulturnation stammende Integrationsbegriff falsch ist, weil er Integration an kulturelle Gleichheit bindet, also eigentlich Assimilation meint. In einer modernen global ausgerichteten Gesellschaft brauchen wir eine „interkulturelle Integration“, also eine Gesellschaft, in der alle die Werte der Verfassung teilen, sich jenseits davon aber in ihrer Verschiedenheit respektieren. Dieser Respekt beruht auf dem Bewusstsein, aufeinander angewiesen zu sein und Andersartigkeit nicht nur zu respektieren, sondern auch als Bereicherung zu empfinden.
Von einer solchen Haltung war man vor dem 1. Weltkrieg auf beiden Seiten meilenweit entfernt und deshalb konnte interkulturelle Integration im Falle der Ruhrpolen bis zum Ende des 1. Weltkriegs nicht gelingen. Am Beispiel der Ruhrpolen kann man vielmehr lernen, wie eine Aufnahmegesellschaft und die Zuwanderergruppe sich nicht verhalten sollten, damit der Zusammenhalt einer modernen Migrationsgesellschaft gelingen kann.[36]
Wenn heute eine andere Sicht vermittelt wird, zeugt dies von einer Unkenntnis der tatsächlichen geschichtlichen Situation.

Abschnitt B (Kapitel 5): 

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen 1918 .1939


5.1 Der 1. Weltkrieg und seine Folgen – eine „Wende“ für die Ruhrpolen

Der Ausbruch des 1. Weltkrieg im Jahre 1914 brachte viele der geschilderten polnischen Aktivitäten im Ruhrgebiet zum Erliegen. Noch 1913 wurde bei einem Treffen im niederländischen Winterswijk das „Ausführende Komitee“ (Komitet Wykonawczy) gegründet, eine Organisation, die alle polnischen Vereine und Institutionen im Ruhrgebiet unter einem Dachverband vereinigen sollte. Die Arbeit des Ausführenden Komitees begann auch sehr erfolgreich, wurde aber dann durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges stark behindert.
Da die Polen ja deutsche Staatsbürger waren, wurden alle wehrfähigen Männer auch zum Militärdienst eingezogen und mussten für Deutschland an den verschiedenen Fronten kämpfen.
Das Ende des Krieges, die Niederlage Deutschlands und der Versailler Friedensvertrag veränderten mit einem Schlag die nationale Lage der Polen und ebenso der polnischen Landsleute im Ruhrgebiet. Durch den Friedensvertrag von Versailles wurde den Polen ein eigener Staat zugesichert, der weite Teile der vorher preußischen Provinzen Westpreußen und Posen und einen Teil Oberschlesiens umfasste. Über den Versailler Vertrag und seine Folgen für das deutsch-polnische Verhältnis berichte ich an anderer Stelle (z.Zt. noch in Arbeit)           
Für die Polen des Ruhrgebiets ergab sich dadurch die Option, in den neu gegründeten polnischen Staat bzw. ihre polnischsprachige Heimat zurückzukehren. Insbesondere national denkende Polen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Der verlorene Krieg und die damit verbundenen Gebietsabtretungen im Osten - insbesondere aber die Abstimmung in Oberschlesien über die Zugehörigkeit dieses Gebiets zu Deutschland oder zu Polen am 20. März 1921 – verschlechterten auch das Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Bevölkerung im Ruhrgebiet. Anfang des Jahres 1920 startete der "Verband der heimattreuen Oberschlesier" in Wanne einen Werbefeldzug für ein deutsches Oberschlesien.  Anlässlich einer am 22. August 1920 in Herne veranstalteten Massenkundgebung "gegen das radikale Polentum" formulierten die ca. 2.000 Teilnehmer ihre gegen die polnische Minderheit gerichteten Forderungen in einer "Entschließung". Da das Abstimmungsergebnis positiv für Deutschland, für Polen aber unbefriedigend war, beschloss der Völkerbund 1921  die Teilung Oberschlesiens, was bei  den deutschen Oberschlesiern auch im Ruhrgebiet große Bitterkeit hervorrief.[1]
Diese Situation beschleunigte sicherlich die Abwanderung vieler Polen. Schlimmer als die Grenzänderungen im Osten war für alle Bewohner im Nachkriegs-Deutschland – und somit auch die Ruhrpolen – aber die große Not - ja sogar Hungersnot – und die bis 1923 sich rasant steigernde Inflation. Die Ursachen der Inflation während der ersten Jahre nach Ende des 1. Weltkriegs und den Gründerjahren der Weimarer Republik waren im Ersten Weltkriegs begründet: Zum Zwecke der Kriegsfinanzierung war durch die Ausgabe von Schuldtiteln einerseits die Geldmenge stark aufgebläht worden, andererseits entstand durch die Produktion von Kriegs- statt Zivilgütern eine Warenknappheit. Angesichts der Preissteigerung bei Gütern des täglichen Bedarfs, die über der Steigerung der Nominallöhne lag, sanken bis 1917 die Reallöhne. Als 1918 diese aber wieder anstiegen, konnte infolge der physischen Warenknappheit der zivile Bedarf nur noch teilweise gedeckt werden.[2] Das Deutsche Reich stand also wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand. Es musste das kriegsgeschüttelte Land wieder aufrichten, Kriegsanleihen an die eigene Bevölkerung zurückzahlen und wegen des Versailler Vertrags und der darin festgeschriebenen Kriegsschuld Geld für Reparationszahlungen an die Siegermächte – vor allem Frankreich - aufbringen.
Als die Franzosen im Jahr 1923 wegen verspäteter Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzten, verschärfte sich die Lage. Um seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, brachte die Regierung mehr und mehr Geld in Umlauf, auch wenn es für die immer höhere Anzahl Banknoten keine materiellen Gegenwerte im Land gab.
In dieser Wirtschafts- und Finanzkrise verließen viele polnische Arbeiter mit ihren Familien das gebeutelten Land an der Ruhr und zogen in die französischen und belgischen Kohlegebiete. Sie folgen den verlockenden Angeboten französischer Werber. Zudem hatte die polnische Gewerkschaft  ZZP eine Delegation nach Paris entsandt, um die Arbeit polnischer Bergleute in französischen Bergwerken anzubieten. Daraufhin kam es zu einer Massenabwanderung nach Nordfrankreich.
Genaue Zahlen über die Abwanderung der Ruhrpolen in den polnischen Staat und nach Nordfrankreich und Belgien liegen nicht vor. Schätzungen gehen davon aus, dass jeweils ein Drittel – also ca. 150.000 – nach Polen und Frankreich abwanderten.[3] Andere Quellen gehen davon aus, dass nur etwa 40.000 Abwanderer in den wieder errichteten polnischen Staat zurückgekehrten, aber über 300.000 in die nordfranzösischen Industrieregionen weitergezogen sind. Wie stark die Abwanderung der Ruhrpolen nach Frankreich war, zeigt sich u. a. daran, dass die beiden in Bochum und Herne erscheinenden polnischsprachigen Zeitungen „Viarus Polski“ und „Narodowiec“ ihren Lesern nach Lille und Lens hinterher zogen, wo sie noch bis in die 1970er Jahre existierten.[4]


                                                 Bild 22 Wiarus Polski Lille
Pikanterweise mussten sich manche dieser ehemals preußischen Polen, die im Ruhrgebiet als Polacken beschimpft wurden, nun in Frankreich als boches (negative französische Bezeichnung für Deutsche) beschimpfen lassen.[5]

5.2 Veränderte Situation für die Zurückgebliebenen

Im Ruhrgebiet verblieben ca. ein Drittel, also ca. 150.000 der ursprünglich ca. 450.000 Migranten mit polnischen / masurischen Wurzeln. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil davon der masurischen Volksgruppe angehörte, die ohnehin nicht in den polnischen Staat ziehen wollte und sich in der 2. Generation oft schon in die deutsche Gesellschaft integriert hatte. Bei einer Volkszählung 1925 gaben im Ruhrgebiet lediglich 15.000 Personen Polnisch als Muttersprache an.[6]
Durch den massiven Fortzug  wurde die Situation der verbleibenden Polen im Ruhrgebiet natürlich völlig verändert. Die Zurückgebliebenen lebten nunmehr verstreut über viele Orte des Ruhrgebiets und hatten nun zwangsläufig mehr Kontakte zu deutschen Nachbarn. Die starke organisatorische Bindung an die geschwächten polnischen Organisationen und Vereine ging verloren, die Zahl der polnischsprachigen Gottesdienste ging zurück. Hinzu kam ein Generationswechsel zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit der deutschen Schule und deutschen Freunden groß geworden waren. Gab es bis 1918 nur wenige deutsch-polnische Mischehen, so stieg deren Zahl in den 1920er Jahren rapide an. In der zweiten und dritten Generation der polnischen Migranten war die Bindung zur polnischen Nationalität häufig verloren gegangen. Murphy schreibt dazu: „…wem die polnische Nationalität am Herzen lag, stand der Weg nunmehr offen, dieses Ziel zu erreichen. Es bedurfte lediglich einer Eisenbahnfahrkarte.“ Viele waren nun aber nicht einmal mehr bereit, die großzügigen Vergünstigungen der Weimarer Republik für die polnische Minderheit in Anspruch zu nehmen. Eltern nahmen die angebotenen Fördermöglichkeiten zur Erlernung polnischer Sprache und Kultur für ihre Kinder nicht in Anspruch. Was auch immer der Grund war – Gleichgültigkeit der Eltern oder Abneigung der Kinder –, ein Jahrzehnt nach dem 1. Weltkrieg blieb in Bottrop – und ähnlich in anderen Ruhrgebietsstädten – nur etwas mehr als eine Handvoll Polen übrig, die der Erhaltung ihrer Sprache und Kultur mit Hilfe öffentlicher Bildungseinrichtungen aktiv nachging.[7] Nach dem Versailler Friedensvertrag hatten Polen in Deutschland bis 1922 die Möglichkeit, gemäß einem im Vertrag festgelegten Optionsverfahren für die polnische Staatsangehörigkeit zu optieren. Nach neuesten Erkenntnissen optierten nur 5.000 Personen aus dem Ruhrgebiet für Polen, ein weiterer Hinweis auf die Stimmung unter den verbliebenen Polen im Ruhrgebiet.[8]

5.3 Rückgang der Mitgliederzahlen und Aktivitäten bei Vereinen und Gewerkschaften

Der Niedergang zeigte sich besonders auffällig bei den beiden vorher bedeutenden Organisationen, den Sokól-Turnvereinen und der polnischen Gewerkschaft ZZP.

5.31 Sokól-Turnvereine

1920 wurde auf einem Kongress in Posen der Wiederaufbau der Sokól-Organisation beschlossen. Posen gehörte nun zum  neuen polnischen Staat, so dass letztmalig Vertreter aus Deutschland an dieser Tagung teilnahmen. Für Deutschland in den neuen Grenzen wurde ebenfalls eine Neuorganisation beschlossen, bei der 2 selbständige Regionen für Berlin und Westdeutschland gegründet wurden. Schon 1921 wurden beide Regionen unter dem Namen „Sokoly in Deutschland“ mit Sitz in Gelsenkirchen vereinigt. Aufgrund der Abwanderung nach Polen und Frankreich ging die Mitgliederzahl bereits 1922 von 5.500 (1914) auf 4.500 zurück. In den folgenden Jahren beschleunigte sich der Rückgang, so dass der Sokol Verband 1924 nur noch 1.200 Mitglieder zählte. Neben finanziellen Schwierigkeiten lag ein Grund dafür in der eigenen Satzung, die nur Turnen und keinen Fußball vorsah. Da der Fußball für junge Männer aber eine immer größere Anziehungskraft entwickelte, gingen die Jugendlichen nunmehr in die deutschen Fußballvereine.  Die masurischen Jugendlichen hatten diesen Schritt ohnehin schon vorher vollzogen. Ein Beispiel hierfür ist der von Masuren geprägte Verein FC. Schalke 04, der damals fälschlicher Weise oft als „Polacken-Verein“ beschimpft wurde. Daraufhin wurde 1927 der Versuch einer Satzungsänderung und Reform der Sokól-Bewegung in Deutschland beschlossen, was jedoch zunächst zur Spaltung führte. 1928 wurde in Berlin der „Verein der Polnischen Turn- und Sportvereine Sokól“ neu gegründet, der auch Fußballabteilungen in seinen Mitgliedsvereinen zuließ, was aber den Mitgliederschwund nicht mehr aufhalten konnte. Die verbliebenen polnischen Jugendlichen gingen lieber in deutsche Sport- und vor allem Fußballvereine, denn bei schwindenden Mitgliederzahlen konnten echte Meisterschaftswettbewerbe innerhalb des Sokol-Verbandes nicht mehr organisiert werden.  1930 hatte der Sokol-Verband in Deutschland – also nicht nur im Ruhrgebiet – nur noch 700 Mitglieder, deren Zahl weiter sank. Viele Vereine stellten deshalb ihre Aktivitäten ein oder trafen sich nur noch zu besonderen – meist geselligen - Anlässen.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wuchs zudem der staatliche Druck, so dass sich im September 1939 Sokól selbst auflöste.[9]

5.32 Polnische Gewerkschaft  ZZP

Ähnlich erging es der Gewerkschaft ZZP im Ruhrrevier. Der Erste Weltkrieg führte zu einer Unterbrechung der Verbandsarbeit in ganz Deutschland.  Im Jahr 1917 begann die erneute Tätigkeit in Deutschland und somit auch im Ruhrgebiet.
1919 lag die Zahl der Gewerkschafts-Mitglieder bei 51.722 mit 288 Zahlstellen. Durch die Rückwanderung in den neuen polnischen Staat verlor die ZZP ca. 10.000 Mitglieder. Weitere ca. 20.000 Mitglieder schieden 1922/1923 durch die Massenabwanderung nach Nordfrankreich aus. Im Jahr 1924 zählte die Organisation noch 21.000 Mitglieder. Nach Christoph Kleßmann war ihre Bedeutung bereits wesentlich geringer. Danach waren in der vorherigen Hochburg Ruhrgebiet nur noch etwa 5000 Bergleute organisiert. Im Bereich der Eisen- und Metallindustrie waren es weitere 3000 Arbeiter. Im Jahr 1929 zählten beide Gruppen zusammen nur noch 2923 Mitglieder. Bei den Betriebsrätewahlen von 1930 erreichte der Verband gerade mal drei Mandate. Im Jahr 1931 kam er auf 161 Stimmen und erhielt kein Mandat mehr. Im Jahr 1934 löste sich die Organisation selbst auf.[10]
 

5.33 Bund der Polen in Deutschland

Wie im Abschnitt …. berichtet, hatte die Bedeutung des Polenbundes vor dem ersten Weltkrieg bereits abgenommen. Die katholischen Vereine und vor allem die Gewerkschaft  ZZP hatten einen wesentlich größeren Einfluss. Der Bund wurde im Jahre 1922 als „Bund der Polen in Deutschland e. V.“ (polnisch Związek Polaków w Niemczech, kurz ZPwN) mit Sitz in Berlin neu gegründet. Sein Einfluss im Ruhrgebiet war jedoch gering, er vertrat vor allem die Polen in den östlichen Grenzgebieten, die bei Deutschland verblieben, das waren nach der Volkszählung von 1925 ca. 200.000 polnische Muttersprachler, davon waren ca. 60.000 Mitglied des Bundes der Polen. Im Jahre 1924 gehörte der Bund zu den Mitbegründern des Verbandes der nationalen Minderheiten in Deutschland, dem außerdem Dänen, Friesen, Litauer und Sorben angehörten.[11]
Nach 1933 gab es seitens des deutschen Staates zwar gewisse Schikanen, aber nach Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes 1934 ließen die Nationalsozialisten die polnische Minderheit relativ ungestört. Hitler verehrte offensichtlich den polnischen Diktator Pilsudski und hatte wohl die Hoffnung, mit diesem eine Übereinkunft zu Lasten Russlands schließen zu können. 1938 durfte  in Berlin sogar ein großer Kongress der Polen in Deutschland stattfinden, an dem ca. 5.000 in Deutschland lebende Polen teilnahmen. Wie viele davon aus dem Ruhrgebiet kamen ist nicht belegt. Auf dem Kongress wurde am 6. März 1938  der folgende
                                         "Dekalog“ der Polen in Deutschland beschlossen:
Wir, die Söhne der polnischen Nation, treue Söhne unter dem Rodło-Zeichen versammelt, geben  feierlich die fünf Wahrheiten der Polen bekannt:
1. Wahrheit: Wir sind Polen!
2. Wahrheit: Der Glaube unserer Väter ist der Glaube unserer Kinder.
3. Wahrheit: Ein Pole ist dem anderen Polen ein Bruder!
4. Wahrheit: Der Pole dient jeden Tag seinem Volk!
5. Wahrheit: Polen ist unsere Mutter – über die Mutter darf man nichts Schlechtes sagen!"
Im Jahre 1939 verschärften sich dann die Spannungen zwischen Deutschland und Polen, so das Hitler in einer Reichstagsrede am 28. 4. 1939 das deutsch-polnische Abkommen aufkündigte.[12] Nach Kriegsbegin 1939 wurden alle verbliebenen polnischen Organisationen verboten und über zweihundert führende Köpfe verhaftet und für einige Monate in Konzentrationslager deportiert.

5.4 Namensänderungen - eine Folge der Veränderungen

Bereits 1901 weist der Innenminister des Deutschen Reiches den Regierungspräsidenten in Münster an, bei der Eindeutschung polnischer Namen großzügig zu verfahren, weil Namensänderungen "die Verschmelzung des polnischen Elements mit dem deutschen zu fördern geeignet sind". In der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, als viele Polen das Ruhrgebiet Richtung neuem polnischen Staat und nordfranzösische Kohlegebiete verließen, und die verbliebenen Polen nun in einer extremen Minderheitssituation waren, wurde von diesem Recht auf Namensänderung vermehrt Gebrauch gemacht und die Zahl der Namensänderungen stieg rapide an. Viele Zuwanderer aus den Ostgebieten ließen nun ihre Namen ändern, weil die Deutschen die polnischen Namen nicht aussprechen konnten, aber auch um sich als gute Deutsche auszuweisen, um sich Diskriminierungen zu ersparen und um ihren Kindern keine Aufstiegschancen zu verbauen. Vor allem viele der preußisch geprägten Einwanderer aus Masuren nutzten die von den Behörden angebotene Möglichkeit. Aber auch Nachkommen polnischer Einwanderer besonders aus Schlesien und Deutsche mit polnischen Namen aus Ost-, Westpreußen und Schlesien machten hiervon Gebrauch. Dabei reichte die Spannweite von der Angleichung der Namen - zum Beispiel aus Majchrzak wurde Maischak - bis in der Regel zur kompletten Änderung der Namen: zum Beispiel aus Majczak wurde Mayer, aus Luczak = Lutz, aus Marczynski = Markus, aus Grzeskowiak wurde Grote, aus Wojciechowski wurde Winter, aus Cerwiński = Celtow. Kaczmarek ließ sich in Kammann umbenennen.
Auch beim FC. Schalke sind einige Fälle von Fußballspielern belegt: Zurawski wurde zu Zurner, Regelski zu Reckmann, Zembrzycki zu Zeidler. Der Linksaußen der Meistermannschaft von 1934, Emil Czerwinski, änderte seinen Familiennamen in Rothardt, was eine sinngemäße Übersetzung darstellt – „czerwony“ heißt auf deutsch „rot“.[13]
Durch die Veränderung des Namens wurden diese Ruhrpolen nicht mehr sichtbar. Sie waren nun gute Deutsche und ihre Herkunft geriet in Vergessenheit. Viele Nachkommen der damaligen Ruhrpolen wissen heute gar nicht mehr, dass sie polnische Vorfahren haben.

5.5 Zwei hartnäckige Legenden

Neben der beschriebenen Legende von der guten Integration der Ruhrpolen in die deutsche Gesellschaft (siehe Helmut Schmidt), sind zwei weitere Legenden nicht auszumerzen. Es handelt sich um die Meinung, die Ruhrgebietssprache wäre im wesentlichen durch polnische Einflüsse entstanden und bei FC. Schalke 04 hätte es sich bis in die 1930er-Jahre hinein um einen polnischen Verein (Polacken-Verein) gehandelt.

5.51 Die Ruhrgebietssprache

Das Ruhrgebiet ist zweifellos durch seine polnischen und masurischen Zuwanderer entscheidend mitgeprägt worden. Man muss nur in die Telefonbücher der Ruhrgebietsstädte schauen und wird dort – trotz vieler Namensänderungen (s.o.) noch viele polnisch bzw. slawisch klingende Familiennamen finden. Allerdings muss man dabei schon berücksichtigen, dass auch viele deutsche Zuwanderer aus den Ostprovinzen ins Ruhrgebiet kamen, deren Vorfahren vielleicht Polen waren bzw. einen polnischen Namen trugen.

Die Meinung vom polnischen Einfluss auf die Ruhrgebietssprache ist auch heute noch weit verbreitet, wenn man sich jedoch näher mit diesem Thema beschäftigt, wird man feststellen, das ein Einfluss des Polnischen auf das sogenannte Ruhrgebietsdeutsch gar nicht oder allenfalls in wenigen Wörtern gegeben ist.

Das Vorurteil beruht vor allem auf einer Überschätzung der Zahl von Zuwanderern mit polnischer Muttersprache. Obwohl die polnischsprachigen Migranten in einigen Stadtteilen des Ruhrgebiets einen Anteil von 20% und mehr hatten, überschritt er im gesamten Ruhrgebieten nie die 5%-Marke.

Tatsächlich beruht die Ruhrgebietssprache auf den niederdeutschen Dialekten, welche vor der Industriealisierung im späteren Industriegebiet zwischen Duisburg und Dortmund gesprochen wurden, d. h. im flächenmäßig größeren westfälischen Teil des heutigen NRW sowie der Stadt Essen wurde westfälisches Platt gesprochen und im westlichen Ruhrgebiet niederfränkisches Platt. Durch den erheblichen Zuzug aus anderen Teilen Deutschlands  (siehe Abschnitt A, Kapitel 1 - 4) eigneten sich diese Dialekte nicht für die Kommunikation der neu strukturierten Bevölkerung. Hierfür eignete sich ausschließlich das Hochdeutsche, dass ohnehin von nahezu allen Zuwanderern in der Schule gelernt wurde. (Abgesehen von einigen Zuwanderern aus den Provinzen Westpreußen und Posen). Aus der Kombination von Hoch- und Niederdeutsch entstand im Ruhrgebiet eine regionale Ausgleichs- und Mischsprache, die spätere Umgangssprache Ruhrdeutsch, die einen Ausgleich zwischen Einheimischen und Zuwanderern, zwischen privater – noch stark vom Dialekt geprägter Alltagssprache und der in der Schule erlernten Schriftsprache schaffte. Hinzu kommt die Tatsache, dass etwa ab 1900 die niederdeutschen Dialekte an Prestige einbüßten – als minderwertige Sprache galten – und die deutsche Standardsprache an Bedeutung gewann.

Typische Merkmale der Umgangssprache Ruhrdeutsch sind: eine Vereinfachung der Grammatik, eine Verkürzung und breitere Aussprache von Vokalen und eine Vereinfachung und Zusammenziehung von einzelnen Konsonanten. Aus dem Niederdeutschen wurden viele Formen der Fälle übernommen und darüberhinaus fand eine Ökonomie der Sprache statt (z. B. aus „so einen Kreis machen“ wurde „sonnen Kreis“ oder gar „son Kreis machen“ oder aus „bei der Arbeit“ wurde „bei’e Aabeit“, d. h. es fand auch ein Verschlucken von Konsonanten zugunsten einer Dehnung des Vokals statt).

Der Einfluss des Polnischen oder Slawischen beschränkt sich tatsächlich auf einige wenige Worte (Mottek für einen Hammer, Matka – aber nicht für Mutter sondern eher eine ungepflegte alte Frau, Pinunsen für Geld, rabotti für arbeiten, dobsche für gut und einige wenige mehr). Selbst diese wenigen Worte stammen aber möglicherweise auch aus dem Jiddischen und gehören heute kaum noch zum aktiven Sprachgebrauch im Ruhrgebiet.[14]

Ruhrgebietsdeutsch wurde in den 60er- , 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts bundesweit durch Hörfunk und später Fernsehsendungen u. a. durch Jürgen von Manger als Adolf Tegtmeier sowie Elke Heidenreich als Else Stratmann erfolgreich verbreitet. Parallel erschienen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung Glossen des „Kumpel Anton“ und der „Dr. Antonia Cervinski-Querenburg“. Außerdem erschienen viele „Lexika“ der Ruhrgebietssprache, so z. B. „1000 Worte Bottropisch“ als Lexikon der Alltagssprache des Ruhrgebiets. Mein Eindruck ist jedoch, dass diese Sendungen oder Veröffentlichungen über die Umgangssprache des Ruhrgebiets oft überzogen waren, der Realität nur bedingt entsprachen und noch weniger der heutigen Wirklichkeit entsprechen. Denn inzwischen hat es weitere Migrationsbewegungen gegeben, die zu einem weiteren „Abschleifen“ des Ruhrgebietsdeutschen geführt haben. Die frühere Annahme, dass sich diese Umgangssprache zu einem neuen deutschen Dialekt entwickelt, ist nicht eingetroffen. Wie auch in anderen Regionen Deutschlands ist das gesprochene Ruhrgebietsdeutsch heute weitgehend eine regional gefärbte Variante des Hochdeutschen, ohne die Übertreibungen eines Adolf Tegtmeier. Aber sie wird nun von den „Ruhris“ selbstbewusst  als „ihre Sprache“ gebraucht.

5.52 Schalke 04 – ein Polacken-Verein?

Im Jahre 1904 wurde von einigen Fußball-begeisterten Jugendlichen - mit Unterstützung ihrer Väter - der Verein Westfalia Schalke gegründet. Die Gründungsmitglieder waren allesamt Deutsche bzw. hatten einen deutschen Namen. Der Verein wurde zunächst nicht in den Westdeutschen Spielverband aufgenommen und hatte als sogenannter „wilder Verein“ am Ende des Gründungsjahres ganze 16 Mitglieder. Nach der Vereinigung mit dem „Turnverein 1877 Schalke“ im Jahre 1912 konnte die Fußballabteilung am offiziellen Spielbetrieb des Westdeutschen Spielbetriebs teilnehmen. Aber  im Jahre 1924 trennten sich Fußball- und Turnabteilung wieder und die Fußballer hießen erst ab diesem Zeitpunkt FC. Schalke 04. Da im Umfeld des Stadtteils Gelsenkirchen-Schalke viele Masuren wohnten, schlossen sich Söhne dieser Zuwanderer vermehrt dem Verein an. (s.o., Abschnitt 2.8 und 5.2). Dennoch wurde der Verein von Außenstehenden aus Unwissen oder auch böswillig von Anfang an als Polacken-Verein verunglimpft.

Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre wurde der Verein immer stärker und  wurde zu einem der bedeutendsten Fußballvereine im Deutschen Reich.
                           Bild 23 Postkarte „Schalke 04 Deutscher Meister 1934 – 1935
                                            (Quelle: http://www.nupomak.de/schalke_04_postkarten.htm)

Als nun der FC. Schalke 04 im Jahre 1934 erstmals deutscher Fußballmeister wurde, erschien die Warschauer Sportzeitung "Przeglad Sportowy" mit der Schlagzeile: „Die deutsche Meisterschaft in den Händen von Polen. Triumpf der Spieler von Schalke 04, der Mannschft unserer Landsleute“. In dem Bericht hieß es dann weiter, dass die Spieler Czerwinski, Kalwitzki, Kuzorra, Mellage, Szepan, Tibulski, Urban und Zajons Polen seien, Söhne von nach Westfalen ausgewanerten polnischen Bergleuten. Andere polnische Zeitungen berichteten daraufhin in gleicher Weise und das deutsche Fußballblatt „Kicker“ zitierte aus diesen Veröffentlichungen. Die Schalker Vereinsführung reagiert mit einem offenen Brief, der in der „Buerschen Zeitung“ unter der Überschrift „Alles deutsche Jungen“ erschien. Im Brief wurde darauf hingewiesen, dass alle 13 Spieler im Ruhrgebiet geboren seien, acht ihrer Eltern würden aus Masuren stammen, zwei Elternpaare seien Einheimische und je eines stamme aus Ostfriesland, aus Oberschlesien und nur der Vater von Valentin Przybylski aus der Provinz Posen. Valentin ließ seinen schwer aussprechbaren Namen umschreiben und hieß nun auch mit Nachnamen Valentin. Tatsächlich waren fast alle Spieler der Meistermannschaft evangelisch und hatten schon deshalb wenig mit den katholischen Polen gemein. Als verlässliche Preußen trugen viele von ihnen den Vornamen Fritz, in Bewunderung des von den Polen ungeliebten Preußenkönigs Friedrich II (der „alte Fritz“). Wie Valentin ließen weitere Schalker Spieler ihren Namen ändern (s.o….), so dass die polnische Presse nicht nur eine Falschmeldung verbreitete, sondern auch zu einer weiteren Assimilation polnischer und masurischer Migranten im Ruhrgebiet einen Anstoß gab.[15]  

5.6 Fazit für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen

Die im Ruhrgebiet verbliebenen ca. 150.000 Personen mit einem polnischen oder masurischen Migrationshintergrund befanden sich in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg in einer ausgesprochenen Minderheitssituation. Die vorher aufgebauten Organisationen verloren zunehmend an Einfluss und damit auch an Mitgliedern. Weiterhin muss man feststellen, dass sich die Zusammensetzung dieser verbliebenen Migranten durch den Fortzug einerseits aber auch durch eine Veränderung der Altersstruktur erheblich verändert hatte. Obwohl keine exakten Zahlen vorliegen,  kann man davon ausgehen, dass praktisch keine Masuren in den neuen polnischen Staat auswanderten und dass auch bei den Abgewanderten in die französischen Kohleregionen der polnische Anteil bei weitem überwog. Zudem war in den 1920er-Jahren eine Folgegeneration herangewachsen, die schon im Ruhrgebiet geboren war und weit weniger Lust verspürte ihre Heimat zu verlassen als ihre Elterngeneration. Für Bottrop weist dies Murphy mit eindeutigen Zahlen nach. Während zwei Drittel der ersten Generation Bottrop nach dem 1. Weltkrieg verließen, waren es nur 10% aus der zweiten Generation.[16] Auf die Zunahme von Mischehen und ihre beschleunigende integrative Wirkung habe ich schon hingewiesen, ebenso auf die nun gemeinsamen Aktivitäten in deutschen Vereinen, vor allem in Fußballvereinen.
All diese Veränderungen, persönliche und institutionelle Bindungen und der Verlauf der Geschichte haben bewirkt, dass die im Ruhrgebiet verbliebenen Polen und Masuren ihre eigenständigen Aktivitäten aufgaben. Die zwangsläufig nicht nur zu einer Integration, sondern zu einer Assimilation von Polen und Masuren in die deutsche Ruhrgebietsgesellschaft. So endete die Geschichte der Ruhrpolen mit dem 2. Weltkrieg und es blieb nur eine geringe Zahl nach 1945 im Ruhrgebiet.
Am Ende ihrer Geschichte muss man feststellen, dass in der zweiten Generation eine fast vollständige Assimilation der verbliebenen Ruhrpolen mit der deutschen Gesellschaft stattgefunden hat, die heute im Rückblick von mancher Seite als Erfolgsgeschichte dargestellt wird. Tatsächlich haben vor allem die Ergebnisse und Folgen des 1. Weltkriegs zu dieser Entwicklung geführt und weniger eine bewusste Entscheidung der Betroffenen oder gar eine gute Integrationspolitik. Leider haben viele Deutsche – bis hin zu höchsten Repräsentanten - aus dieser Entwicklung den Schluss gezogen, die Ruhrpolen seien gut integriert worden und damit ein Musterbeispiel einer guten Integration. Es wird  auch der Fehler begangen, Integration mit Assimilation zu verwechseln bzw. gleichzusetzen. Beim Vergleich der Ruhrpolen mit den seit den 1960er Jahren nach Deutschland gekommenen Türken stellen wir bei näherer Betrachtung erstaunliche Parallelen fest und es ist wenig hilfreich, den heutigen Türken die Ruhrpolen als gelungenes Beispiel einer Integration zu präsentieren.


Abschnitt C (Kapitel 6):

Polen in Deutschland nach 1945

6.0 Einleitung - Überleitung


Die beiden vorhergehenden Abschnitte A und B haben sich ausschließlich mit der Situation der polnischen Migranten im Ruhrgebiet beschäftigt und die übrige Einwanderung von Polen bzw. zweisprachigen Deutsch-Polen aus den damaligen deutschen (preußischen) Ostprovinzen außer Acht gelassen. Diese hat es durchaus auch gegeben, insbesondere ist der Zuzug nach Berlin zu erwähnen. Da die Ära der Ruhrpolen mit dem Ende des 2. Weltkriegs praktisch zu Ende ging, werde ich bei der Betrachtung der Zuwanderer aus dem Polen der Nachkriegszeit deren Situation im gesamten Deutschland beleuchten, die sich auch grundsätzlich von der Minderheiten-Situation der Ruhrpolen unterscheidet. Zwar gibt es auch nach wie vor polnische Zuwanderer mit Schwerpunkt Ruhrgebiet, aber deren Situation unterscheidet sich nicht wesentlich von den Polen, die sich in anderen Teilen Deutschlands niedergelassen haben und dort mehr oder weniger große Anteile an der Gesamtbevölkerung haben.

6.1 Die Nachkriegsjahre bis 1950

Wie viele Ruhrpolen nach dem 2. Weltkrieg noch mit polnischer Identität  im Ruhrgebiet bzw. im  Deutschland der heutigen Grenzen lebten ist statistisch nie erfasst worden. Entsprechend meinen Ausführungen im Hauptabschnitt B kann man aber davon ausgehen, dass – soweit sie nicht assimiliert waren - ihre Zahl sehr gering war. Nach dem Krieg hatte man andere Sorgen.

6.11 Flüchtlinge und Vertriebene

Am Ende des Krieges kamen durch Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ca. 7 Millionen Deutsche in die spätere Bundesrepublik oder die DDR. Man kann davon ausgehen, dass darunter auch eine größere Zahl von Masuren, Oberschlesiern und Personen mit teils polnischer teils deutscher Identität waren. Sie hatten sich in der Zeit des Nationalsozialismus zum deutschen Volk bekannt und fürchteten nun bei einem Verbleib in der Heimat die Rache der neuen polnischen Machthaber und Mitbewohner. Da es sich ohnehin ausschließlich um deutsche Staatsangehörige handelte liegen mir keine Erkenntnisse über ihre Zahl vor.

Natürlich gab es zu Beginn durchaus erhebliche Probleme, für die große Anzahl dieser Menschen im verbliebenen Deutschland eine Unterkunft zu schaffen und ihre Versorgung sicher zu stellen. Schließlich kamen sie in ein Deutschland mit zerbombten Städten, einer zerschlagenen Infrastruktur und zu Menschen, die ebenfalls um das nackte Überleben kämpfen mussten. Reibereien zwischen Einheimischen und Flüchtlingen waren da nicht auszuschließen. Aber nach der Währungsreform 1948 ging es im Westen Deutschlands ja wirtschaftlich steil bergauf, so dass die gut ausgebildeten Flüchtlinge beim Wiederaufbau hervorragend in den deutschen Wirtschaftsprozess eingegliedert wurden. Das gilt ebenso für die polnisch- bzw. masurisch-stämmigen Flüchtlinge. Ihre Leistung beim Wiederaufbau kann nicht hoch genug eingeschätzt und gewürdigt werden. Anfangs bestand unter den Vertriebenen und Flüchtlingen noch die Hoffnung auf Rückkehr in ihre Heimatgebiete und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland (zunächst auch die Machthaber der späteren DDR) hielten ihren Anspruch auf die „nur polnisch besetzten“ Ostgebiete stets offen. Unterstützt wurden sie dabei von den Landsmannschaften der vertriebenen Ost- und Westpreußen und Schlesier.

6.12 Displaced Persons  (DPs)

Außerdem befanden sich am Ende des 2. Weltkriegs eine große Zahl (ca. 6 – 7 Mio.) sogenannter Displaced Persons  (DPs) innerhalb der 4 Besatzungszonen Deutschlands, darunter mehr als 900.000 Polen.[1]


Bild 24:  Lager für polnische DPs in Flossenbürg                                      (Foto Danuta Mykyiuk – Quelle: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de)
 
Es handelte sich um sehr unterschiedliche Zivilpersonen, die sich alle durch den Krieg und politische Entscheidungen in den nunmehr 4 Besatzungszonen Deutschlands aufhielten. Dazu zählten vor allem ehemalige Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und auch andere Arbeitskräfte, die mehr oder weniger freiwillig während der Kriegsjahre nach Deutschland gekommen waren. Ziel der Alliierten war es, ihnen so bald wie möglich eine Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. Sie lebten in dazu von den Alliierten geschaffenen Auffanglagern und es war für die Alliierten eine  erhebliche Belastung, diesen Personenkreis mit Verpflegung und Kleidung zu versorgen. Ein sowjetisch-amerikanisches Rückführungsabkommen vom 11. Februar 1945 hatte festgelegt, dass alle DPs, die in den zu besetzenden Gebieten vorgefunden wurden, in ihre Heimat zurückgeführt werden sollten. Auch mit Frankreich wurde ein solches Übereinkommen getroffen. Bis Herbst 1945 waren ca. 4,6 Mio. Displaced Persons aus den westlichen Besatzungszonen in ihre Heimatländer zurückgeführt worden, davonüber 2 Mio. in die Sowjet-Union. Anfangs duldeten die Westalliierten die zwangsweise Rückführung der sowjetischen DPs mit allen Konsequenzen für die Betroffenen, erkannten aber bald die Brisanz der Vereinbarungen und nahmen davon Abstand. Unter den aus den Westzonen repatriierten und unter den verbliebenen ca. 1,2 Mio. DPs befanden sich viele Personen, die mit der deutschen Besatzungsmacht einvernehmlich zusammengearbeitet hatten und die nun bei einer Rückkehr in die Sowjet-Union mit erheblichen Schwierigkeiten – bis hin zu Todesurteilen oder einer Verbannung nach Sibirien – rechnen mussten. Auch für einige Polen galten bei einer Rückkehr in das nun kommunistische Polen gleiche Probleme. Die sowjetische Seite hingegen bestand jedoch auf dem Abkommen. Schließlich legte eine UN-Resolution vom Februar 1946 die Freiwilligkeit der Repatriierung fest.
Die überwiegende Mehrheit der DPs betrachtete Deutschland nur als Zwischenstation, ließ sich entweder bereitwillig in die Heimat zurückführen oder wanderte - als sich entsprechende Emigrationsmöglichkeiten ergaben – z. B. in die USA, nach Kanada oder Australien aus. Geblieben sind jene, die sich bereits in Gemeinden außerhalb der Lager niedergelassen, etwa kleine Läden eröffnet hatten oder z. B. im Bergbau einen gut bezahlten Arbeitsplatz fanden.[2]
Da die Rückführung oder Auswanderung nicht so einfach war, wie zunächst gedacht, verblieben auch nach 1950, als die verbliebenen Lager von deutschen Behörden übernommen wurden, noch eine beträchtliche Zahl DPs in Deutschland, die man nun als „heimatlose Ausländer“ bezeichnete. Wie viele polnische oder polnisch-stämmige Personen darunter waren ist nie genau ermittelt worden. Es ist aber davon auszugehen, dass auch sie in den folgenden Jahrzehnten in der deutschen Gesellschaft assimiliert wurden.

6.2 Die Zeit von 1950 bis zur Wende 1989/1990

6.21 Aussiedler, Spätaussiedler, Flüchtlinge, Emigranten

Um eine Entvölkerung der von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete zu vermeiden, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen (Beispiel Fachleute im oberschlesischen Bergbau) und aus nationalpolitischen Gründen wurde sogenannte Autochthone aus ihrer Heimat nicht vertrieben oder ausgewiesen. Dazu zählten all diejenigen, die der polnische Staat als zum Polentum gehörige Mitglieder reklamierte, auch um den Anspruch auf die „neu gewonnenen Westgebiete“ zu untermauern. Dazu setzte der neue polnische Staat sogenannte Verifizierungskommissionen an, die eine mögliche polnische Abstammung prüften, wobei ihnen oft schon eine polnisch klingender Nachname und eine Treueerklärung für Polen ausreichte. In Anbetracht der wirtschaftlichen Not und der Diskriminierung alles Deutschen wählten viele Oberschlesier, Masuren, Kaschuben und auch manche Deutsche mit geringen Polnisch-Kenntnissen den  Weg der Verifizierung, um in der Heimat bleiben zu können. Nach polnischen Angaben wurden so bis  zum 1. April 1948 ca. 1 Million Menschen als polnische Bürger verifiziert. Etwa 170.000 verbliebene Deutsche, die sich nicht verifizieren ließen wurde 1951 die polnische Staatsangehörigkeit verliehen. Insgesamt wohnten nach 1950 entsprechend polnischen  Angaben ca. 1,4 Millionen Autochthone in den neuen polnischen Westgebieten und ca. 250.00 Angehörige der nun anerkannten deutschen Minderheit.

Ab 1955 wurde durch Vermittlung des Roten Kreuzes eine Familienzusammenführung ermöglicht, in deren Rahmen kamen bis 1959 ca. 250.000 Deutsche bzw. Polen die sich zur deutschen Kultur bekannten in die Bundesrepublik bzw. nach Westberlin und ca. 40.000 in die DDR.[3]

Mit Hinweis auf diese Auswanderung und den Wegzug weiterer polnisch/deutscher Emigranten stellte  der polnische Staat ab 1960 jegliche Kulturförderung für die deutsche Sprache ein. Alle Kinder und Jugendlichen besuchten nur noch polnische Schulen und deutsch durfte in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden. Die Hoffnung des polnischen Staates auf rasche Eingliederung der sogenannten Autochthonen in das polnische Volk erfüllten sich jedoch nicht. Die Zeit der Eroberung durch die Rote Armee, die folgenden Plünderungen und das Verhalten der polnischen Zuwanderer blieben als negative Ereignisse im kollektiven Gedächtnis, zumal sich viele Oberschlesier nicht als befreite Polen, sondern als Deutsche fühlten. Zur Abgrenzung von „den Polen“ wurde der schlesische Dialekt gesprochen, um sich bei Verbot der deutschen Sprache als Einheimische abzugrenzen.[4]

In der folgenden Generation konnten wegen fehlender Möglichkeiten viele Kinder dieser Autochthonen kein, oder nur mangelhaftes Deutsch sprechen und viele von ihnen fühlten sich nun als Polen.

6.22 Wiederstand gegen Stalinismus und Volksdemokratie

Nach Stalins Tod 1953 und dem Ende stalinistischen Terrors macht sich in der polnischen Bevölkerung immer wieder Unmut über die politische und wirtschaftliche Entwicklung bemerkbar, so in einem gewaltsam niedergeschlagenen Streik und Massendemonstrationen im Juni 1956. Auch eine gemäßigtere Politik unter  Parteichef Gomulka  konnte die Unzufriedenheit der polnischen Bevölkerung über die schwieriger werdenden Lebensverhältnisse nicht mindern. Nach dem Prager Frühling 1968 wurde eine Studentendemonstration von den Sicherheitsorganen gewaltsam niedergeschlagen. Im Westen wurden die Arbeiter-Aufstände in den Jahren 1976 und 1978 und die Gründung eines überbetrieblichen Streikkomitees 1980 besonders bekannt. Hieraus ging die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc hervor, ein  maßgeblicher Vorreiter für den Umbruch im Ostblock. Vorher war aber noch gewaltigen Widerstand der kommunistischen Machthaber zu überwinden.[5]

Die geschilderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, das 1981verhängte Kriegsrecht, politische Verfolgung und gleichzeitig wirtschaftliche Not sowie die Unterdrückung aller Widerstände gegen die kommunistische Herrschaft führten in den Jahren bis zur Wende 1989 zu einer beträchtlichen Flucht von unzufriedenen und verfolgten Polen. Viele sogenannte Autochthone erinnerten  sich nun an ihre deutschen Vorfahren. Überall in Polen und besonders in den ehemaligen deutschen Ostgebieten steckten „Beweise“ für die Abstammung von Deutschen hinter Bilderrahmen und in Schubladen – wie eine Versicherung für schlechte Zeiten.[6] Solche Beweisstücke für eine deutsche Abstammung waren Eintragungen in die sogenannte  Volksliste Gruppe 3 und auch 4. Diese deutsche Volksliste (DVL) regelte die Staatsbürgerschaft (Eindeutschung)  in den nach dem Polenfeldzug 1939 annektierten polnischen Gebieten. Wer in Polen vor dem 1. 9. 1939 sich im „Volkstumskampf aktiv für das Deutschtum“ eingesetzt hatte gehörte zur Gruppe 1, wer ohne besondere Aktivitäten „sein Deutschtum nachweislich bewahrt hatte“, gehörte zur Gruppe 2. Wer diesen beiden Gruppen zugerechnet wurde, erhielt automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Zur Gruppe 3 gehörten nach Ansicht der nationalsozialistischen Machthaber  „deutschstämmige Personen“, die im Laufe der zurückliegenden Jahre Bindungen zum Polentum eingegangen waren und Bevölkerungsgruppen, die zwar eine slawische Haussprache hatten, zur deutschen Kultur aber eine eindeutige Präferenz zeigten. Gemeint waren damit eindeutig Kaschuben, Masuren, Oberschlesier und viele Polen aus dem Bereich Danzig-Westpreußen. Zur Gruppe 4 gehörten schließlich eindeutschungsfähige Personen, die nach Meinung der Nazis ursprünglich deutschstämmig waren, aber im Polentum aufgegangen waren. Im Januar 1944 waren insgesamt 2,75 Millionen Menschen in der DVL erfasst worden, davon allein 1.678.000 in der Gruppe 3. Angehörige (Nachkommen) der Gruppen 1 und 2 ohnehin, aber auch der Gruppen 3 und 4 erhielten als Spätaussiedler bei einer Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland relativ schnell und unkompliziert die Deutsche Staatsbürgerschaft verliehen, da sie entsprechend dem Staatsbürgerschaftsrecht der Bundesrepublik als deutsche Staatsbürger galten. Wie viele Personen sich auf die DVL bei der Einwanderung beriefen ist statistisch nicht erfasst worden, wird aber oft bestätigt.[7]  Emilia Smechowski  schreibt dazu in ihrem Buch „Wir Strebermigranten“: „Wir hatten dieses besondere Ticket. Wir waren komplett polnisch, hatten überhaupt keine deutsche Sozialisation, aber der Opa meiner Mutter ist auf der deutschen Volksliste gelandet und hat auf deutscher Seite im Krieg gekämpft. Und dadurch hatten wir sozusagen einen Vertriebenenstatus, einen Aussiedlerstatus bekommen.“ Aufgrund dieser geschichtlichen Gegebenheit  bekam ihre Familie  innerhalb des ersten Jahres den deutschen Pass, der nach ihrer heutigen Sicht den Druck auf ihre Eltern erhöhte, sich besonders anzupassen und sich zu den „Deutschesten im ganzen Land“ zu entwickeln.[8]

6.23 Entspannungspolitik und neue Ausreisewelle

Ende der 1960er-Jahre änderten die Westmächte und auch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ihre Politik gegenüber dem kommunistischen, von der Sowjet-Union geführten, Ostblock. Aufgrund dieser flexibleren Politik wurde am 7. 12. 1970 der deutsch-polnische Vertrag geschlossen, der eine Normalisierung der Beziehungen einleiten sollte. Nach und nach änderte sich die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik hin zu einer realistischen Betrachtung der Lage in Polen, wo inzwischen eine Generation neuer polnischer Bewohner in den ehemals deutschen Ostgebieten herangewachsen war. Zwar nicht endgültig aber faktisch wurden mit dem deutsch-polnischen Vertrag die Grenzen an der Oder und Neiße auch von bundesdeutscher Seite anerkannt, was die DDR auf sowjetischen Druck hin bereits 1950 vollzogen hatte. Für die Vertriebenen und Flüchtlinge schwand damit natürlich die Hoffnung auf eine evtl. Rückkehr in die Heimat.

Für die verbliebene deutsche Minderheit verbesserte der Warschauer Vertrag von 1970 aber die Möglichkeiten der legalen Ausreise in die Bundesrepublik. Der Vertrag erlaubte Personen unbestreitbar deutscher Volkszugehörigkeit und auch deren polnischen Eheleuten und Familienmitgliedern die Ausreise. Die polnische Regierung erkannte damit indirekt an, dass nach wie vor viele Deutsche auf ihrem Staatsgebiet lebten, was der offiziell vertretenen Meinung widersprach. Sie ging allerdings fälschlicherweise zunächst davon aus, dass es sich nur um einige Zehntausende handelte, die ausreisewillig waren. Neutrale Beobachter gingen jedoch von bis zu 1,5 Millionen Menschen aus, die Ende 1970 für eine Ausreise in Betracht kamen.[9]

Besondere Schwerpunkte der Ausreisewilligen waren die Bereiche Oberschlesien und Masuren. Die Masuren galten als so genanntes "unsicheres Element" unter den Bürgern der Volksrepublik Polen und sie wurden von der kommunistischen Regierung mit Misstrauen behandelt. Sie galten als Deutsche und waren als solche staatlichen Schikanen ausgesetzt. Infolgedessen emigrierten in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ca. 160.000 Masuren in die Bundesrepublik. Viele von ihnen wurden vom polnischen Staat ausgewiesen.[10]  Dafür spricht auch, dass die masurische Sprache im heutigen Polen praktisch ausgestorben ist.[11]

Ähnlich erging es vielen zweisprachigen Oberschlesiern. Bei der Betrachtung der Zuwanderer aus Polen, vor allem aus Schlesien, muss man auch das Problem des sog. schwebenden Volkstums bedenken bzw. die frühere kulturelle Verbundenheit masurischer, kaschubischer und schlesischer Bewohner der Ostgebiete mit den Deutschen. Bei den sogenannten Spätaussiedlern (nach 1970) gab es deshalb auch zunehmend Sprachprobleme, weil die Jüngeren (unter 40) keine deutsche Schule besuchen konnten, Deutsch in der Öffentlichkeit verboten war und sie sich in ihrem Umfeld des Polnischen als Verkehrssprache bedienen mussten. Bei den Älteren waren zwar noch Deutschkenntnisse vorhanden, aber es fehlten oft Kenntnisse des Deutschen beim Schreiben und Lesen. Deshalb gestaltete sich ihre Integration schwieriger als bei den Flüchtlingen der ersten Nachkriegsjahre. Mancher der jüngeren Aussiedler hatte daher auch Identifikationsprobleme. In Polen fühlte man  sich als Deutsche(r), in Deutschland angekommen wurde man als Pole/Polin wahrgenommen und fühlte sich dann auch so. Aber auch diese Schwierigkeiten wurden relativ schnell überwunden, wie nachstehend noch zu berichten ist.

Zweifellos waren es oft wirtschaftliche und nicht kulturelle Gründe, die die Spätaussiedler veranlassten, nach Deutschland über zu siedelten. Mit ihnen kamen aber auch ethnische Polen als Ehegatten und deren gemeinsame Kinder. Hinzu kamen noch ethnische Polen als politische Flüchtlinge und Emigranten, vor allem in der Zeit der polnischen Aufstände und der Solidarnosc-Demonstrationen. Nach Angabe der polnischen Botschaft in Deutschland sind von 1956 bis 1980 etwa 800.000 Polen in die USA und nach Westeuropa ausgewandert, in den 1980er-Jahren weitere 270.000, davon viele sogenannte Solidarność-Emigraten. Wie viele davon nach Deutschland kamen wird nicht angegeben.[12]

6.24 Eingliederungspraxis bei Spätaussiedlern

In der Regel bekamen Spätaussiedler sofort die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt.  Von Bedeutung für diese Aussiedler / Migranten aus Polen war und ist das aus dem Grundgesetz ableitbare deutsche Verfassungsrecht.  Nach Art. 116 GG gilt jede Person, „deutscher Volkszugehörigkeit oder dessen Ehegatte oder Abkömmling, der in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 gelebt oder Aufnahme gefunden hat“, heute noch als Deutscher. Daraus ergibt sich, dass die in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden früheren deutschen Staatsbürger und ihre Nachkommen weiterhin die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Da nur die Staatsbürgerschaft und nicht ethnische Kriterien zugrunde gelegt wurden, sind also auch die mehr als eine Million Masuren, Kaschuben, Schlesier aber auch Polen,  die im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 als anerkannte Minderheit lebten, und ihre Nachkommen Deutsche im Sinne des Grundgesetzes.[13]

Da es sich aber bei der früheren polnischer Minderheit nach polnischem Recht um polnische Staatsangehörige handelt und diese Staatsangehörigkeit auch nach der Ausreise nicht verloren ging, sind die meisten ethnischen Polen heute Doppelstaatler.


6.3 Heutige Situation der Polen in Deutschland

6.31 Zahlen und Identitäten

Nach einer Statistik des Bundesverwaltungsamtes Köln kamen in der Zeit von 1951 bis 2000 fast 1,5 Millionen Aussiedler  aus den ehemaligen deutschen Ostgebiete in die Bundesrepublik und die DDR. Zu den Aussiedlern kamen weitere Migranten und Flüchtlinge aus Polen, insbesondere aufgrund der dortigen schlechten Wirtschaftslage und der Verfolgung von Regimegegnern.

                          Bild 25: Aussiedlerzahlen 1950 – Juni 2000



Dabei ist jedoch zu bedenken, dass es sich bei der großen Zahl dieser Zuwanderern (meist Spätaussiedler) keineswegs um eine  einheitliche ethnische Gruppe handelte.


             Bild 26: Übersichtstabelle Migranten aus Polen nach 1950



Bei der Definition, wer ist Pole, wer ist Deutscher, gab und gibt es bis heute sehr unterschiedliche Definitionen. Die verschiedenen Kriterien, wie z. B.:

> polnische Staatsbürgerschaft,
> deutsche Staatsbürgerschaft
> polnische Muttersprache,
> deutsche Muttersprache
> masurische, kaschubische, schlesische Muttersprache
> Bekenntnis zur polnischen oder deutschen Sprache und Kultur
> Nachkommen von deutschen Staatsbürgern aus den Ostgebieten in den 
   Grenzen von 1937 und deren Eheleuten

führten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.


Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes Stand 2016 über Personen mit Migrationshintergrund (siehe nachstehende Grafik)  haben knapp 1,9 Millionen Menschen in Deutschland einen polnischem Migrationshintergrund. Die Zahl der Personen mit ausschließlich polnischer Staatsbürgerschaft lag zum 31.12. 2017 bei 870.000 und war damit im Vergleich zum Vorjahr nochmals um 10,7% gestiegen. Demgegenüber nam die Zahl der Einwohner mit ausschließlich türkischer Staatsbürgerschaft sogar um 0,6% ab( auf  1.480.000)[14]  



                   Bild 27: Bevölkerung_Migrationshintergrund 2016


Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 700.000  Menschen polnischer Abstammung bzw. mit polnischem Migrationshintergrund heute im Ruhrgebiet leben, also mehr als vor dem 1. Weltkrieg. Davon haben laut Regionalstatistik Ruhr ca. 60.600 nur die polnische Staatsbürgerschaft. Im gesamten Ruhrgebiet liegt die Ausländerquote von rund 13 Prozent nur unwesentlich über dem NRW-Schnitt von 12,8 Prozent. Anders ausgedrückt: Im Revier leben zwar viele ausländische Mitbürger (rund 665 000),  aber im Vergleich zu anderen Ballungsräumen ist die Region mit der in Deutschland ausgeprägtesten Zuwanderungsgeschichte keineswegs eine aus dem Rahmen fallende multikulturelle Hochburg. Anders als vor dem 1. Weltkrieg sind Polen – wie in Gesamtdeutschland – auch hier die zweitstärkste Migrantengruppe (nach den Türken), anders als zur Zeit vor dem 1. Weltkrieg gibt es aber keine polnischen Siedlungszentren mehr, sondern es liegt eine weit gestreute Ansiedlung vor, was eine Integration naturgemäß besonders fördert.[15]  Hinzu kommt in ganz Deutschland eine nicht genau zu bestimmend Zahl von polnischen Saisonarbeitern in der Bau- und Landwirtschaft und von Frauen in Pflegeberufen. Ohne diese Arbeitskräfte besonders in der Landwirtschaft und in der häuslichen Pflege alter und kranker Menschen hätten wir in Deutschland große Probleme. Wer sich über polnische Pflegekräfte in Deutschland weiter informieren möchte, dem empfehle ich  diese Internetseite:


6.32 Polnische Zuwanderer gut integriert

Dabei fällt auf, dass diese große Gruppe mit polnischem Migrationshintergrund – die größte nach den Türken - in der deutschen Öffentlichkeit kaum in Erscheinung tritt. Polen gelten heute in der deutschen Gesellschaft als eher "unsichtbar und unauffällig".  Gemeint ist damit, dass Polen allgemein als so gut integriert gelten, dass sie nicht im Sinne von Integrationsproblemen auffallen. Darauf weisen eine große Zahl von Veröffentlichungen hin, von denen ich hier einige zusammengestellt habe. Die Welt vom 27.  4. 2001 titelte einen entsprechenden Artikel: „Man spricht Deutsch – und fällt nicht auf“.

                             Bild 28: Polen nach 1945 unauffällig  
 
Der Grund liegt hauptsächlich darin, dass sich viele Spätaussiedler als Deutsche fühlten oder übergesiedelte Polen zumindest vorgaben, Deutsche zu sein, um nach 1950 ausreisen zu können. Es gibt viele Berichte besonders von Nachkommen dieser Zuwanderer, wie sehr die Eltern darauf achteten, dass die Kinder schnell deutsch lernten und in der Schule sich besonders anstrengen sollten. Darüber schrieb Emilia Smechowski das Buch „Wir Streber-Migranten“. (siehe Abschnitt…Anmerkung 60) Das Ergebnis sehen wir auch bei einem Vergleich der Schulabschlüsse von Migrantenkinder. Dabei schneiden Jugendliche mit polnischem Migrationshintergrund bei weitem am besten ab. Fast zwei Drittel der in Deutschland lebenden Polen verfügen über eine mittlere oder hohe Schulbildung, dagegen schneiden besonders Türken, aber auch Italiener und Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien wesentlich schlechter ab. Dieses Bildungsgefälle hat natürlich auch Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Folge bei der schnelleren Integration.[16]
 

                           29 Schulabschlüsse-Migranten 2010
 
Ein weiterer Vorteil, der die Integration von Migranten aus Polen fördert, ist sicherlich der christliche, meist katholische Glaube. Da er heute ungehindert gelebt werden kann, ergeben sich auch daraus keine Konfliktstoffe. Dazu hat die katholische Kirche der Nachkriegszeit einen wichtigen Beitrag geleistet. In vielen Städten des Ruhrgebiets und weit darüberhinaus werden regelmäßige Gottesdienste in polnischer Sprache angeboten, wovon auch reger Gebrauch gemacht wird. So gibt es in Essen eine eigene polnische Pfarrgemeinde, die Kirche Clemens-Maria-Hofbauer in Essen-West.


                      Bild 30: Kirche.Clemens-Maria-Hofbauer, Essen-West
 
Sonntags ist die Kirche in drei Hl. Messen bis in die letzten Reihen besetzt, das bedeutet ca. 1400 Kirchenbesucher! Auch die täglichen Messen an Werktagen werden gut besucht – von mindestens 100 Gläubigen. Allerdings plant das Bistum Essen den Abriss dieser Kirche und die polnischsprachigen Gläubigen wissen heute noch nicht, wo es dann für sie Ersatz gibt. Auch in Bottrop finden in der Herz-Jesu-Kirche regelmäßig polnische Gottesdienste statt, die von der Polnischen Katholischen Mission in Bochum betreut werden.

6.33 Bund der Polen in Deutschland

Über den Besuch katholischer Gottesdienste in polnischer Sprache hinaus besteht bei der Mehrzahl der polnisch-stämmigen Migranten ganz offensichtlich kein großes Interesse an einem Engagement in den durchaus vorhandenen polnischen Verbänden oder Organisationen. Davon gibt es in Deutschland ca. 100, nach Angaben der polnischen Botschaft sogar 170.  Darin organisiert ist jedoch nur eine kleine Minderheit. Im neu gegründeten Bund der Polen in Deutschland  gibt es nach eigenen Angaben nur rund 1.000 Mitglieder und weitere 2 – 3.000 Angehörige und Sympathisanten.[17] Neben dem Bund der Polen in Deutschland mit Sitz an der historischen Stätte in Bochum gibt es noch einen Kongress der Polen in Deutschland, ein Katholisches Zentrum zur Förderung der Polnischen Sprache und Kultur, den Bundesverband Polnischer Rat in Deutschland  als Dachverband von 11 Landesverbänden und verschiedenen Berufsverbänden sowie einen weiteren Bund der Polen in Deutschland „Zgoda e.V.“ mit Sitz in Recklinghausen. Diese polnischen Organisationen sind oft untereinander zerstritten und daher auch nicht besonders durchsetzungsfähig. Die vorgenannten 5 Dachorganisationen haben 1998  einen Konvent der Polnischen Organisationen in Deutschland gegründet, um gemeinsame Interessen gegenüber deutschen und polnischen Behörden zu vertreten.[18]
Insbesondere der Bund der Polen in Deutschland fordert von Zeit zu Zeit die Anerkennung der Polen in Deutschland als nationale Minderheit. Sie verweisen dabei auf den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag und fordern zudem mehr Polnisch-Unterricht an deutschen Schulen. Nach Ansicht der Bundesregierung kann den in Deutschland lebenden Polen im Gegensatz zur alteingesessenen autochthonen deutschen Minderheit in Polen – nach deutschem Recht und dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates vom 1. Februar 1995 nicht der Status einer nationalen Minderheit zuerkannt werden. Die Bundesregierung verweist darauf, dass die in Deutschland lebenden Polen auch im Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrag nicht als nationale Minderheit bezeichnet werden. Das Hauptproblem besteht darin, dass fast alle Polen oder deren Vorfahren durch Migration in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingewandert und somit keine alteingesessenen Bewohner sind. Außerdem leben sie nicht in einem zusammenhängenden Siedlungsgebiet wie die Polen in den Ostgebieten nach 1918. Unabhängig von der Anerkennung als Minderheit stünden den deutschen Staatsbürgern polnischer Abstammung aber alle bürgerlichen und politischen Rechte zu und damit auch die Möglichkeit der Pflege der eigenen Kultur und Muttersprache[19]

6.34 Andere polnische Aktivitäten

An weiteren polnischen Vereinsaktivitäten ist zu vermerken, dass es in verschiedenen deutschen Städten  polnische Sportvereine – meist Fußballvereine gibt. So z. B.  in Bottrop den FC Polonia Bottrop, der nach eigenen Angaben zwar durch polnisch-stämmige Spieler geprägt wurde, in dem heute aber Polen und Deutsche gemeinsam spielen und die Umgangssprache  deutsch ist und das Vereinslied selbstverständlich in deutscher Sprache gesungen wird.[20] Weitere Vereine mit dem Namen FC. Polonia gibt es in Berlin, Wuppertal, Hagen, Ulm, Hannover u.a.
Als Beispiel für viele weitere polnische Aktivitäten möchte ich den Polnischen Kreis „Piast“ in Essen anführen. Er ist einer von den über 100 polnischen Vereinigungen in Deutschland, die sich regional darum bemühen, den polnisch-stämmigen Menschen in Deutschland einen guten Übergang von der einen in die andere Welt zu ermöglichen. Im Verein trifft man sich mit Landsleuten, spielt und singt miteinander polnische Volkslieder und Schlager. Der Verein Piast hat es sich zum Ziel gesetzt, die Selbsthilfeaktivitäten der Mitglieder zu bündeln, um die Integration zu fördern und die Sprachbarriere zu überwinden. Ausdrückliches Vereinsziel ist die Förderung der Verständigung  zwischen Polen und Deutschen. Insbesondere die Generation, die vor 1990 nach Deutschland kam, stellt bei den Treffen  fest, dass man selbst oft nicht weiß, ob man mehr Pole oder Deutscher ist und bemerkt, das die eigenen Kinder diese Probleme nicht mehr haben, weil sie sich schon ausschließlich als Deutsche fühlen. Daneben gibt es aber auch Polen, die sich selbstbewusst zu ihren Wurzeln bekennen. So z. B. das „Danziger“ oder besser „Gdanska“, ein Kultur-Restaurant in Oberhausen, 2000 von Maria und Czeslaw Golebiewski gegründet, das seinen Gästen Vorträge, Bühnenauftritt und Ausstellungen  polnische Künstler anbietet, wo aber auch deutsche Künstler auftreten.[21]
Auf einen besonders skurrilen Verein möchte ich abschließend noch hinweisen: den Club der polnischen Versager mit Sitz in Berlin, gegründet 1994 und seit 2000 im Vereinsregister eingetragen. Er gibt eine eigene Zeitschrift „Kolano“ heraus und hat sich der Kunst, dem Theater und – wie der Name aussagt – der Satire verschrieben. Seit 1998 gibt es im Radio (Radio multikulti / RBB und aktuell im Funkhaus Europa / wdr/rbb) die Satiresendung “Gaulojzes Golana”, in der die polnischen Versager satirisch das deutsch-polnische Leben bearbeiten.[22]

6.4 Fazit zum Abschnitt C

Zusammenfassend kann ich also feststellen: die heute in Deutschland lebenden Mitbürger mit polnischem Migrationshintergrund sind durchweg gut integriert, ganz im Gegensatz zu der Mehrheit der Ruhrpolen, die bis zum Ende des 1. Weltkriegs im Ruhrgebiet lebten. Die heute hier lebenden Polen - auch die vielen Saisonarbeiter(innen) und Pflegekräfte - sind völlig unauffällig in der Gesellschaft, werden anerkannt und bereiten praktisch keine Probleme. Sie erbringen einen wichtigen Beitrag zur deutschen Wirtschaftsleistung und zum gegenseitigen Verständnis der deutschen und polnischen Kultur. Sie sind aus dem deutschen Alltagsleben nicht mehr wegzudenken.

Um diese Meinung  zu unterstreichen, möchte ich abschließend aus dem Blog einer polnischen Migrantin zitieren, was sie zum heutigen deutschen-polnischen Verhältnis meint:

„Erstens, ist für mich das, was die Deutschen im 2. Weltkrieg gemacht hatten, längst Geschichte - man sollte irgendwann, meiner Meinung nach, darunter einen Schlussstrich ziehen und aufhören, sich für die schlimmen Sachen, für die man selbst nicht verantwortlich ist, zu entschuldigen. Ich bin außerdem kein Ansprechpartner dafür, weil kein Opfer. Zweitens will ich, dass wir zusammen in die Zukunft schauen - die Geschichte können wir nicht ändern, die Gegenwart und die Zukunft können wir dagegen beeinflussen. 

Zugegeben, es gibt in Polen immer noch Politiker und "normale" Menschen, die eine Gefahr in Deutschland sehen, die bei jeder Gelegenheit zu diesen Themen zurückkehren. Mit ihnen möchte ich auf gar keinen Fall identifiziert werden.“[23]

Dem kann ich mich nur anschließen und als Deutscher sagen, dass ich die Vorurteile mancher Deutscher gegenüber Polen nicht nachvollziehen kann, dass ich die Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer angestammten Heimat und alles damit verbundene Unrecht als nicht zurück drehbare Geschichte betrachte und ich mich freue, dass wir heute im Gegensatz zur Zeit meiner Großeltern so gut mit den polnisch-stämmigen Zuwanderern wie auch den Saisonarbeitern zusammen leben.






 

Anmerkungen zu Abschnitt A (Kapitel 1 - 4)


[5] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“
[6] http://www.zeit.de/2010/50/Polen-Ruhrgebiet/komplettansicht und Oliver Trevisiol „Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871 – 1945“ (Dissertation 2004)
[7] Christian Hagemann: Ruhrgebietsdeutsch (Linguistik-Server Essen)
[9] Wie Anmerkung 7
[11] Quelle: Bericht über den Stand der Polenbewegung im rheinisch-westfälischen Industriebezirk vom 6. Mai 1910; HStAD Regierungsbezirk Düsseldorf, Politische Akten, Politische Wahlvereine und politische Vereine, Polensachen, Sign. 16019, S. 188191; HStAD Regierungsbezirk Düsseldorf, Politische Akten, Politische Wahlvereine und politische Vereine, Polensachen
[12] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“ - Fremdsprachige Minderheiten im Deutschen Reich, www.verwaltungsgeschichte.de -
https://de.wikipedia.org/wiki/Hultschiner_Ländchen
[13] http://www.kortumgesellschaft.de/index.php/zeitpunkte-heft-172004-kuznia-bochumska-die-bochumer-kader-schmiede.html und Marian Brudzisz „Die Polenseelsorge der polnischen Redemptoristen in Deutschland“ 2007, S. 109-161  auch als pdf
[14] http://www.kortumgesellschaft.de/index.php/zeitpunkte-heft-172004-kuznia-bochumska-die-bochumer-kader-schmiede.html
[15] Christoph Kleßmann in der ZEIT Nr. 50/2010
[16] www.verwaltungsgeschichte.de – Promotion Michael Rademacher, Dissertation Universität Osnabrück – Homepage Deutsche Verwaltungsgeschichte 1871 – 1990, 2006 – Quelle Statistik des Deutschen Reichs. Band 150: Die Volkszählung am 1. 12. 1900 im Deutschen Reich. Berlin 1903
[17] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“ und http://www.kab-nikolaus-gross.de/index.php/wer-sind-wir/herz-jesu und http://www.pragerzeitung.cz/index.php/home/reisen/19273-zu-uns-gehoert-ihr-eurem-geiste-nach und htttp://www.route-industriekultur.ruhr/themenrouten/26-sakralbauten/herz-jesu-kirche-bottrop.html
[18] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“ - "Borbecker Beiträge" 21. Jahrgang Nr. 1/2005
[20] ANDREAS KOSSERT „Echte Söhne Preußens“ -  Die polnischsprachigen Masuren in Westfalen und ihre Frömmigkeit - pdf wz-9036
[21] http://www.porta-polonica.de/de/node/174
[22] http://www.kortumgesellschaft.de/index.php/zeitpunkte-heft-172004-kuznia-bochumska-die-bochumer-kader-schmiede.html
[23] Zitiert nach Christoph Kleßmann „Die polnische Parallelgesellschaft“ in „Die Zeit“ Nr. 50/2010
[26] http://www.kortumgesellschaft.de/index.php/zeitpunkte-heft-172004-kuznia-bochumska-die-bochumer-kader-schmiede.html - und Jenseits des Guten und Schönen – Unbequeme Denkmale – zum Tag des offenen Denkmals 8. 9. 2013 www.bochum.de
ISBN:  978-3-8093-0292-6
[27] http://www.kortumgesellschaft.de/index.php/zeitpunkte-heft-172004-kuznia-bochumska-die-bochumer-kader-schmiede.html
[29] Wie vor und Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“ S. 96
[31] Zitiert nach Christoph Kleßmann „Die polnische Parallelgesellschaft“ in „Die Zeit“ Nr. 50/2010
[32] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“
[33] Christoph Kleßmann in der ZEIT Nr. 50/2010
[34] Wie vor, Anmerkung 29
[35] Sylvia Haida „Die Ruhrpolen  Nationale und konfessionelle Identität  im Bewusstsein und im Alltag 1871-1918“ Dissertation Bonn, 2012, S. 316/317

Anmerkungen zu Abschnitt B (Kapitel 5)


[1] Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel
[5] Tagungsbericht „Polen im Ruhrgebiet 1870 - 1945“ - Deutsch-polnische Tagung. 06.11.2003–09.11.2003, Bochum, in: H-SozKult 14.12.2003
[6] Thomas Urban „Der Verlust“ – Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert“ S.39
[7] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“, S.98
[8] Tagungsbericht „Polen im Ruhrgebiet 1870 - 1945“ - Deutsch-polnische Tagung. 06.11.2003–09.11.2003, Bochum, in: H-SozKult 14.12.2003
[9] Porta Polonica >Atlas der Erinnerungsorte >Erinnerungsorte >Der Polnische Turnverein „Sokół”
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Polnische_Berufsvereinigung
[13] Christoph Kleßmann: „Die polnische Parallelgesellschaft“ in der Zeit Nr. 50/2010 -  http://hu-bildungswerk.de/medien/online-archiv/ Susanne Sitzler: Die Kowalskis sind die Müllers des Ruhrpotts. Deutsche und polnische Jugendliche auf Spurensuche  (2006) - Hellmuth Vensky: „Polen prägten das Ruhrgebiet: Schimanskis Väter“ in Die Zeit v, 2,3,2010
[14] www.ruhrgebietssprache.deLinguistik-Server Essen, Christian Hagemann: „Ruhrgebietsdeutsch“ - http://www.ruhrgebietssprache.de/polnisch_im_ruhrgebiet.html darin Heinz H. Menge „Über den polnischen Einfluss auf die Umgangssprache des Ruhrgebiets“
[16] Richard C. Murphy “Gastarbeiter im Deutschen Reich – Polen in Bottrop 1891-1933“, S.180ff


Anmerkungen zu Abschnitt C (Kapitel 6)

[1] Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer, die Displaced Persons in Westdeutschland 1945 - 1951, Göttingen, 1985
[2] https://www.historisches-lexikon-bayerns.de und Archiv für Sozialgeschichte 42, 2000 - Angelika Eder: "Displaced Persons / Heimatlose Ausländer als Arbeitskräfte in Westdeutschland
[3] Informationen zur politischen Bildung Nr. 267, 2. Quartal 2000
[4] wie vor
[5] Informationen zur politischen Bildung Nr. 273, 4. Quartal 2001
[6] WAZ vom 29.12.2017 „Die Heimat tragen sie im Herzen: Wie Polen im Ruhrgebiet leben“
[7] https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/deutsche-volksliste/
[9] Informationen zur politischen Bildung Nr. 222, 1. Quartal 1989

[11] http://mussenstellen.com/ und „Der letzte Masure“ erschienen in „Der Freitag“ v. 5. 7. 2002
[14] Ausländerzentralregister 31.12.2017
[21] https://piastessen.com/statutsatzung-3/ und Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 29. 12.2017
[22] https://www.porta-polonica.de/de/node/183#body-place
[23] http://polschland.blogspot.de/2013/10/klischees-uber-polen-in-deutschland.html
 

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