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2.01 Das Deutsche Volk in Europa




1. Vorbemerkungen

Die Beziehung des ethnisch deutschen Volkes zu „Volk, Nation und Staat“ ist geprägt durch die Mittellage seines Siedlungsgebietes mit wenigen natürlichen Grenzen und besonders durch seine Geschichte. (siehe Abschnitt 3)

Aufgrund dieser Voraussetzungen lebt das deutsche Volk in Europa heute in folgenden Staaten:

2. Deutsche Staaten

a) deutsche bzw. überwiegend deutsche Staaten
Bundesrepublik Deutschland (→2.0101), Republik Österreich (→2.0102), Fürstentum Liechtenstein (→2.0104), Schweiz / Schweizer Eidgenossenschaft (→2.0103) und Luxemburg (→2.0105)
b) als deutsche Volksgruppe mit Autonomie / Sonderstatus
Autonome Provinz Südtirol in Italien (→2.0109), Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien (→2.0106)
c) als Volksgruppe oder Minderheit in folgenden Staaten:
Belgien (außerhalb der DG), Italien (außerhalb Südtirols) Schweiz (in den frankophonen Kantonen und im Tessin), Frankreich (Elsässer und Deutsch-Lothringer), Dänemark (DeutscheNordschleswiger), Polen (vor allem in Schlesien), Tschechien, Slowakei, Ungarn, Serbien (in der Wojwodina), Rumänien (Siebenbürgen und Banat), in den baltischen Staaten, in der Russischen Föderation, der Ukraine und weiteren GUS-Staaten sowie Restgruppen in Slowenien und Kroatien.
d) Deutsche außerhalb Europas
Angehörige des deutschen Volkes leben außerdem z. B. in den Vereinigten Staaten, Kanada, in Südamerika, Süd- und Südwest-Afrika und Australien. 

3. Kurzer geschichtlicher Rückblick

Im Gegensatz zu westlichen Staaten (Frankreich, England, Spanien) hat das deutsche Volk – gelenkt von seinen Landesherren - jahrhundertelang nicht den Wunsch nach einem Einheitsstaat verspürt, denn es lebte fast ausschließlich im Heiligen römischen Reich deutscher Nation, sah hierin ein ausreichendes Band und eine „gottgewollte“ Ordnung. Daher war der Reichsgedanke lange Zeit prägend, der nicht von einer einheitlichen Staatsnation ausgeht, sondern von dem Gedanken der Einheit in Vielfalt, die am ehesten eine dauerhafte Friedensordnung garantiert. Hinzu kam seit der Reformation die religiöse Spaltung der Deutschen in römisch-katholische und evangelische / reformierte Christen, so dass auch die Religion als einigendes Band spätestens seit dem 30jährigen Krieg nicht mehr vorhanden war.
Im heiligen römischen Reich mit dem Zusatz „deutscher Nation“ waren zwar die Deutschen das stärkste Element und der von den Kurfürsten gewählte Kaiser war stets Oberhaupt einer deutschen Dynastie, im Reich lebten aber auch viele andere Völker (Italiener, Tschechen, Slowenen u. a.) ohne jede Diskriminierung.
Nach Aufklärung und französischer Revolution kam allerdings auch bei den Deutschen die Forderung nach einer geeinten Nation auf. Zunächst aber erlebte das alte Reich seinen Tiefpunkt mit dem Einmarsch französischer Revolutionstruppen, der Annektion aller linksrheinischen Gebiete und der Errichtung von französischen Vasallenstaaten, die sich im sogenannten Rheinbund zusammenschlossen. So blieb dem letzten römisch-deutschen Kaiser, dem Habsburger Franz II. im Jahre 1806 als Konsequenz nur der Verzicht auf die Kaiserkrone. Damit war das Ende des römisch-deutschen Reichs besiegelt, das mit der Krönung Otto I (des Großen) 962 so glanzvoll begonnen hatte. Spätestens nach dem Westfälischen Frieden 1648 war das Reich aber nur noch ein loser Zusammenhalt und wurde von den Egoismen der Teilstaaten (bzw. der Dynastien) mehr bestimmt als von der Zentralgewalt des Kaisers.
Aber die Fremdherrschaft unter Napoleon weckte in vielen  Deutschen den Wunsch nach einem neuen Deutschen Reich. Nach dem Sieg über Napoleon und im Zeichen der Romantik wurde von vielen ein geeintes Deutschland gefordert, dass alle Menschen deutscher Sprache vereinen sollte. So dichtete Ernst Moritz Arndt lange vor Hoffmann von Fallersleben:
„Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland? Ist’s wo am Rhein die Rebe blüht? Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht? O nein! Nein! Nein! Sein Vaterland muss größer sein….So nenne mir das große Land! Soweit die deutsche Zunge klingt…Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne Dein!“
Ein Einheitsstaat nach westlichem Muster ließ sich mit diesen romantischen Vorstellungen allerdings nicht vereinbaren. So mahnten schon Anfang des 19. Jahrhunderts der Reichsfreiherr vom Stein und der Hochschullehrer und Publizist Joseph Görres im Rheinischen Merkur eine Einheit in der Vielheit an.[1] Das Ergebnis war allerdings noch geringer,  ein vom Wiener Kongreß 1815 beschlossener Deutscher Bund, ein relativ loser Zusammenschluss deutscher Fürsten, der vor allem unter dem Gegensatz der beiden Großmächte Österreich und Preußen litt. Auch die Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849 versuchte eine sogenannte großdeutsche Lösung in Verbindung mit einer Demokratisierung zu erreichen, scheiterte aber letztlich an den Interessen der beiden deutschen Großmächte Preußen und Österreich. Die weitblickenden Gedanken eines Konstantin Franz (1817-1891)[2] wurden nicht gehört. Der Philosoph, Publizist und Politiker war der Vordenker eines vom Heiligen Römischen Reichs inspirierten mitteleuropäischen Staatenbundes und später entschiedener Gegner des von Bismarck geschaffenen nationalstaatlichen Deutschen Reichs. Später wurde er manchmal als Vordenker der Nazis missbraucht, weil er eine großdeutsche Lösung im Auge hatte. Tatsächlich aber war er ein entschiedener Befürworter des Föderalismus, der für ihn nicht das Gegenteil von Partikularismus noch Zentralismus war, sondern über beiden als das höhere Dritte stand. Für ihn waren Preußen und Österreich Vertreter eines Partikularismus, sie verhinderen eine organische Weiterentwicklung des Deutschen Bundes, beide seien auf Zentralisation angelegt und versuchten diese auf andere Bundesglieder auszudehnen[3]
Dennoch blieb auch in der Zeit des Deutschen Bundes immer ein Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutscher, so dass Heinrich Hoffmann von Fallersleben durchaus zu Recht von einem Deutschland dichten konnte, dass von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt reicht – aber nicht im Sinne eines einheitlichen zentralistischen Nationalstaats, sondern als Kultur-Nation. (Das ist später oft missverstanden worden!) Alle Versuche, den Deutschen Bund zu reformieren und zu einem echten Bundesstaat zu machen, scheiterten letzlich am Gegensatz Preußen-Österreich und vor allem an der Politik Otto von Bismarcks, seit 1862 preußischer Ministerpräsident. Er geht konsequent seinen Weg, der nur eines im Blickpunkt hat: die Vormachtstellung Preußens in den deutschen Landen. Damit war er bei der Mehrheit aller Deutschen keineswegs beliebt. Schon die Angliederung des kompletten Rheinlands und Westfalens durch den Wiener Kongress löste bei der dortigen Bevölkerung eher Unmut aus, ganz zu schweigen von den süddeutschen Staaten sowie den Sachsen und Hannoveranern, die sich mehr mit Österreich verbunden fühlten. Sie alle neigten mehr zu einer Reform des Deutschen Bundes und zu einer Dämpfung der preußischen Großmachtpläne.
Leider ist die Geschichte anders verlaufen. Der Deutsche Bund wurde auf Betreiben Bismarcks durch den Bruderkrieg von 1866 zerstört, Österreich nach Osten abgedrängt, seiner deutschen Basis entzogen und dem Nationalitätenhader seines Imperiums preisgegeben. Die Folge: eine „kleindeutsche“ Lösung unter preußischer Regie, ein neues Reich, dass durch geschickte Diplomatie Bismarcks nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 zustande kam, ein Nationalstaat, der jedoch ohne das diplomatische Geschick Bismarcks dann in den ersten Weltkrieg schlitterte und der durch den Österreicher Hitler nach nur 74 Jahren zerstört am Boden lag, seine „preußischen“ Ostprovinzen verloren hatte und von den Siegermächten des 2. Weltkriegs in vier Besatzungszonen aufgeteilt wurde.
Sowohl nach dem 1. als auch nach dem 2. Weltkrieg wurde dem verbliebenen Rest-Östereich von den Siegermächten untersagt, sich einem anderen deutschen Staat anzuschließen.[4] Der Wille dazu war bei den Österreichern einschließlich der Sudetendeutschen nach dem 1. Weltkrieg groß. Aber im Vertrag von Versailles und den anderen Pariser Vorortverträgen wurde die tragische und verblendete Politik der Alliierten manifestiert. Für Frankreich bedeutete dies die Tilgung der Schmach von Versailles 1871. „Versailles war ein ungerechter, demütigender Friedensvertrag. Versailles ist ein wichtiges Stück Ursache des Nationalsozialismus….Versailles und Hitler gehören zusammen. Die Kombination aus Härte des aufdiktierten Vertrages plus nachfolgender Duldung des Vertragsbruches führte direkt zum Zweiten Weltkrieg. Ohne Versailles wäre Hitler ein minderbegabter Wiener Ansichtskartenmaler geblieben“.[5]
Mit dem Ende des 2. Weltkriegs endete das von Bismarck geschaffene Deutsche Reich und damit auch jeder Versuch einer neuen gesamtdeutschen Lösung mit Österreich. Die maßgeblichen österreichischen Politiker suchten nun das Heil in einem eigenen neutralen Staat. Auf dem Boden des untergegangenen Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 wurden von den Alliierten zunächst 4 Besatzungszonen geschaffen und die Gebiete östlich der Oder Polen und der Sowjet-Union "zur Verwaltung übergeben". Aus den westlichen Zonen bildete sich 1949 die Bundesrepublik Deutschland und aus der sowjetischen Zone die Deutsche Demokratische Republik (DDR). 40 lange Jahre der Trennung folgten bis zur ersten gelungenen deutschen Revolution in der DDR 1989. (weitere Anmerkungen zur Geschichte der deutschen Staaten siehe 2.0101 und 2.0102)
Nach diesem Verlauf der Geschichte ist es an der Zeit, in den deutschen Staaten eine andere Einstellung zum deutschen Volk und zur deutschen Nation zu finden.

4. Deutsches Volk, deutsche Nation, deutsche  Sprach-und Kulturgemeinschaft heute

Nach der geglückten Wiedervereinigung von Bundesrepublik und DDR im Jahre 1990, verbunden mit dem endgültigen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete,  entstand der verkleinerte Bismarckstaat neu, aber nunmehr demokratisch und föderalistisch aufgebaut. Er ist inzwischen ein wirtschaftlich starker Faktor in der Welt geworden und hat eine friedvolle Entwicklung in einem zusammenwachsenden Europa genommen. Österreich hatte sich im Friedensvertrag von 1955 zu strikter Neutralität verpflichtet. Erst nach Beendigung des kalten Krieges gab es die Möglichkeit, sich über die europäische Lösung zu einer neuen Gemeinsamkeit zusammen zu finden. Deutsch-Schweizer und Luxemburger versuchen mit einer besonderen Betonung der regionalen Sprachen einen Sonderweg zu gehen, sind aber über die gemeinsame Hochsprache fest mit dem deutschen Sprach- und Kulturkreis verbunden. Über die alle Mitglieder des deutschen Volkes verbindende Hochsprache, die deutsche Literatur und Kultur habe ich unter 1,232 Die deutsche Sprache einen eigenen Post verfasst.  Eine wichtige verbindende Rolle spielt heute auch das Fernsehen und das Internet. Eine besonders verdienstvolle Arbeit  für ein gemeinsames kulturelles Bewusstsein leistet dabei der Fernsehsender 3SAT. 
Welche Rolle können nun deutsches Volk und deutsche (Kultur-) Nation in diesem neuen Europa spielen. Über allem sollte eine klare Absage an jeglichen Nationalismus stehen! Wer sein eigenes Volk wirklich liebt, der kämpft auch für die Rechte anderer Völker. Aber, so sagt Peter Glotz zu recht: „Reden gegen den Nationalismus sind keine Reden gegen Nation und Nationalität“[6]
Der Unterschied zwischen Volk und Kultur-Nation (Sprach- und Kulturgemeinschaft) liegt m. E. im Bewußtsein eines jeden einzelnen. Dabei ist Volk eher passiv zu sehen, ein Bekenntnis zur Sprach- und Kulturgemeinschaft eher aktiv. So heißt es im „Deutsch-dänischen Abkommen vom 29. März 1955“: „Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und zur deutschen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.“und im „Gesetz über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen: „Zum sorbischen Volk gehört, wer sich zu ihm bekennt. Das Bekenntnis ist frei. Es darf weder bestritten noch nachgeprüft werden. Aus diesem Bekenntnis dürfen keine Nachteile erwachsen.“ Dieser Grundsatz sollte auch bei der Integration von Migranten gelten, die sich entscheiden müssen, ob sie sich lediglich als deutsche (oder österreichische) Staatsbürger sehen, die die Werte der demokratischen Verfassung akzeptieren oder ob sie sich auch von der Identität ihres Herkunftslandes (oder dem Land ihrer Eltern) lösen wollen, was wir als vollständige Assimilation bezeichnen. Man muss allerdings bei Migranten anerkennen, dass es bis zur vollständigen Assimilation viele Zwischen- und Übergangsstufen gibt, ähnlich den Volksgruppen in Grenzgebieten (Elsässer, Lothringer, Oberschlesier, Nordschleswiger u. v. a.) Siehe dazu meinen besonderen Post: Migration - Integration - Assimilation
In der deutschen Sprache kennen wir noch zwei Begriffe, die unterschiedlichen Ebenen zugeordnet werden Können: Als Vaterland bezeichnen wir den deutschen Staat in dem wir leben oder zu dem wir uns hingezogen fühlen, (so bezeichnen z. B. viele Südtiroler Österreich als ihr Vaterland) mit Muttersprache verbinden wir hingegen die Zugehörigkeit zum großen deutschen Sprach- und Kulturraum.

Zum deutschen Volk zählen also alle, die sich in den unter a) bis d) aufgeführten Gebieten als Deutsche fühlen, die deutsche Sprache oder einen deutschen Dialekt als Muttersprache sprechen und bewußt oder unbewußt mit der deutschen Kultur und Lebensweise verbunden sind. Der Wille, zur deutschen Kultur-Nation (Sprach- und Kulturgemeinschaft) zu gehören, geht noch darüber hinaus. Ein bewusstes Bekenntnis wird allerdings in der Regel nur von Bewohnern in Grenzgebieten oder von deutschen Volksgruppen in anderen Staaten erwartet. So muss z. B. jeder Südtiroler in einem Zensus alle 10 Jahre bestätigen, zu welcher Volksgruppe er gehört (Deutscher, Italiener, Ladiner). Die Festlegung hat z. B. Auswirkungen auf die Besetzung öffentlicher Stellen oder die Vergabe von staatlich geförderten Wohnungen.[7] Bei anderen Grenzland- oder Auslands-Deutschen ist die Entscheidung, ihre Kinder in  eine deutsche Schule zu schicken gleichbedeutend mit einem ja zur deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft. Ein Binnenland-Deutscher wird sich kaum diese Frage stellen, da er mehr unbewußt diese Entscheidung getroffen hat. Anders stellt sich die Frage allerdings bei Migranten, besonders in der zweiten oder dritten Generation. Beim Reflektieren dieser Frage wird jedem schnell bewusst, dass die Zugehörigkeit zur Deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft nicht an den Grenzen der Bundesrepublik oder der Republik Österreich endet, aber dass auch innerhalb deutscher Staaten durchaus deutsche Staatsangehörige einer anderen Ethnie oder Volksgruppe angehören kann. Goethe und Schiller, Beethoven und Mozart gehören allen, die sich zum deutschen Volk und seiner Kultur zählen, ebenso wie Franz Kafka, Heinrich Böll, Elfriede Jelinek, Hertha Müller, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt um nur einige zu nennen. Denn alle in der deutschen Sprache schreibenden, singenden und kommunizierenden Dichter, Schriftsteller und Künstler tragen zur lebendigen Ausstrahlung dieser Gemeinschaft bei. So auch z. B. der Nobelpreisträger Elias Canetti, der in berührender Weise schildert wie er zu seiner zweiten „Muttersprache“ Deutsch gekommen ist und deshalb seine Werke in dieser Muttersprache verfasst.[8] Auch viele Migranten bekennen sich bewusst zur deutschen Sprache, weil sie sich in dieser am besten ausdrücken und ihre Gefühle darstellen können. Damit ist nicht immer ein gleichzeitiges Bekenntnis zu einem deutschen Staat verbunden, viele Migranten gehen auch diesen Weg, andere wollen zunächst ihre alte Staatsangehörigkeit beibehalten oder streben eine doppelte Staatsbürgerschaft an. Hier ist Toleranz und Geduld gefordert und auch die Einsicht, dass kulturelle Vielfalt auch eine Bereicherung für alle Staatsangehörigen sein kann.

5. Was ist deutsche Identität?


Die beste Darstellung über eine differenzierte Betrachtungsweise des vielschichtigen Begriffs „Identität“ fand ich beim österreichischen Schriftsteller und Journalisten Günther Nenning, einem vormaligen Politiker der österreichischen Sozialisten[9] Er stellt in seinem bemerkenswerten Buch zunächst an vielen Stellen fest, dass es einen ehrenwerten Nationalismus gibt, der, weil er für das eigene Volk ist, ebenso für andere Völker und Nationen eintritt. Demgegenüber steht ein aggressiver, hysterischer, bornierter Nationalismus, der alles andere niederwalzen möchte. Und er kommt zu der Feststellung: „Ich lasse mir gute Worte und nützliche Begriffe (wie Nation und Heimat) nicht stehlen von zwölf Jahren Hitler. (S. 57). Er vergleicht die verschiedenen Loyalitäten des Menschen auf den verschiedenen Ebenen zwischen Heimat und Welt mit russischen Puppen (S.60) und kommt für sich zu dem Ergebnis: Ein Österreicher ist z. B. St. Pölten-national, niederösterreichisch-national, österreichisch-national und, weil deutsch-national gar zu verdächtig klingt, zugehörig zur deutschen Sprache, Geschichte und Kultur, ferner ist er Mittel- und Gesamt-Europäer und er fügt hinzu: Alles was einfacher ist, ist nicht mehr guter Nationalismus, sondern bornierter.(S.57) In einer Nation steckt,  wie bei der russischen Puppe, wieder eine Nation und noch eine (kleinere) Nation und so ist die Deutsche Nation eine Nation, die die Österreichische umfasst. (S.60)

Ich möchte für mich das Bild der russischen Puppe aufgreifen, und am Beispiel meiner Person die verschiedenen sich überlappenden und überlagernden Identitäten und Loyalitäten darstellen:
Ich wohne in Kirchhellen, einem Dorf am nördlichen Rand des Ruhrgebiets mit einer Landschaft, die in das Münsterland und den Niederrhein übergeht. Hier wohne ich seit mehreren Jahrzehnten und betrachte dies als meine Heimat. Bei der kommunalen Gebietsreform 1976 schloss sich Kirchhellen freiwillig der Stadt Bottrop an, um einer Zerstückellung ihres Gemeindegebiets zu entgehen. So fühle ich mich heute auch als Bottroper, zumal ich dort lange Zeit meinem Beruf nachging. Als geborener Essener habe ich aber auch noch eine Bindung an meine Vaterstadt, in der ich aufwuchs. Sowohl als Kirchhellener, Bottroper und Essener fühle ich mich als Westfale. Wer meint, Essen gehöre doch nicht zu Westfalen, der kennt die Geschichte dieser alten westfälischen Stadt nicht, die nur durch preußische Willkür 1815 zum Rheinland geschlagen wurde. Das war vor der Zeit des Bergbaus und der Stahlindustrie im Ruhrgebiet, in dem inzwischen ohnehin die landsmannschaftlichen Unterschiede zu einer neuen Identität, der des Ruhrgebietlers, verschmolzen sind. So fühle auch ich mich als Ruhrgebietler. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der nördliche Teil der Rheinprovinz mit der altern preußischen Provinz Westfalen und dem Land Lippe zum neuen Bundesland Nordrhein-Westfalen vereint, wobei das Ruhrgebiet eine wichtige Klammer zwischen den beiden Landesteilen darstellt. Inzwischen ist hier in NRW, nicht nur aufgrund gemeinsamer politischer Erfahrungen und Erduldungen ein neues Wir-Gefühl entstanden, das ich teile. Als (Nordrhein-) Westfale bin ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland, von deren Geschichte ich die überwiegende Zeit meines Lebens geprägt wurde. Besonders nach der geglückten Wiedervereinigung mit den Ländern der zwischenzeitlichen DDR, meine ich, dass man stolz auf dieses Vaterland sein kann, dass mit seiner freiheitlichen und bewährten Verfassung eine Garantie für ein gutes Zusammenleben bietet. So ist in letzter Zeit der Begriff des Verfassungs-Patriotismus entstanden,[10] der ein verbindendes Element für alle Bürger des Staates Bundesrepublik Deutschland ist, der vor allem an das gemeinsame Gefühl der Rechtssicherheit und Freiheit appeliert und somit auch für Neubürger/Migranten aus anderen Kulturkreisen die Basis für ein gemeinsames Vaterland bietet.
Darüber hinaus fühle ich mich der gesamten deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft verbunden, der ich viele gute Erfahrungen verdanke. Das Gefühl der Verbundenheit mit dieser großen deutschen Gemeinschaft empfinde ich besonders in meinem Lieblings-Urlaubsland Südtirol, wo man auf Schritt und Tritt daran erinnert wird, wie jeder Südtiroler seine deutsche Identität und die Zugehörigkeit zur deutschen Sprache und Kultur täglich neu festigen muss. (Vor den heutigen Autonomiebestimmungen war dies natürlich in noch weit stärkerem Maße spürbar). Man spürt aber auch, dass dieser kleine Teil des großen Ganzen nicht nur aus dem Brunnen der großen Gemeinschaft schöpft, sondern die Gemeinschaft mit seinem Beitrag auch bereichert.
Bleibt die Identität als Europäer, die m. E. mit fortschreitendem Prozess der europäischen Einigung ebenfalls wächst. Ich freue mich jedenfalls, an der Vielfalt der europäischen Kultur, an seiner reichen Geschichte und denke, dass wir diese europäische vielfältige Identität gegen ein Überhandnehmen eines US-amerikanischen Kultur-Imperialismus gemeinsam verteidigen sollten.


[1] Franz Herre: „Nation ohne Staat“ Köln 1967, S. 43ff
[3] Franz Herre: „Nation ohne Staat“ Köln 1967, S. 175ff
[4] Werner Maser: „Deutschland – Traum oder Trauma“ S. 243f
[5] Günther Nenning: „Die Nation kommt wieder“  S. 44f
[6] Peter Glotz: „Der Irrweg des Nationalstaats“, S. 27
[7] Oskar Peterlini „Der ethnische Proporz in Südtirol“ Athesia Bozen 1980
[8] Elias Canetti: „Die gerettete Zunge“ Fischer-Taschenbuch 1977
[9] Günther Nenning: „Die Nation kommt wieder“ Edition Interfrom Zürich 1990
[10] Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 28/2009 v. 6. 7. 2009 darin: Volker Kronenberg: „Verfassungspatriotismus im vereinten Deutschland“

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