1.231 Sprache(n) als Identitätsmerkmal



1. Wichtiges Identitätsmerkmal eines Volkes: das gemeinsame Band der (Hoch-) Sprache

überarbeitete Fassung von Oktober 2018

Zweifellos ist die gemeinsame Sprache eines der entscheidenden Merkmale eines Volkes und sie trägt wiederum entscheidend dazu bei, das sich die Glieder eines Volkes als Mitglieder einer gemeinsamen Kultur verstehen. (siehe 1.21 Volk, Nation, Staat - Definition der Begriffe und 1.22 Ethnien, Volksgruppen, nationale Minderheiten, Nationalitäten)


Josef Beuys hat deshalb richtigerweise festgestellt: „....Der Begriff des Volkes ist auf eine elementare Weise verknüpft mit seiner Sprache. Wohlgemerkt, ein Volk ist keine Rasse“.[1] Der bekannte französische Experte für nationale Minderheiten, Guy Héraud,  bringt es auf den Punkt: „Die Sprache ist die wichtigste unter den objektiven Komponenten des Volkstums...sie ist der Mittler einer Kultur, sie ist der Spiegel der Empfindungswelt, sie erweist sich als das Allerheiligste der ethnischen Werte“.[2] 


Eine von mehreren Schautafeln zum Thema "Sprache" in Leeuwarden, der Hauptstadt der multilingualen niederländischen Provinz Friesland, der Kulturhauptstadt Europas im Jahre 2018.

Und der bekannte amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt: „Das Denken selbst geschieht in einer Sprache… Und jede Sprache ist ein eigenes riesiges Struktursystem, in dem die Formen und Kategorien kulturell vorbestimmt sind, auf Grund dessen der einzelne sich nicht nur mitteilt, sondern auch die Natur aufgliedert, Phänomene und Zusammenhänge bemerkt und übersieht, sein Nachdenken kanalisiert und das Gehäuse seines Bewusstseins baut.
Ernst von Glaserfeld, der Mitbegründer des Radikalen Konstruktivismus, ist zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, wenn er schreibt, dass man mit einer Muttersprache stets so verbunden sei, dass die Art und Weise, in der diese Sprache die Erlebniswelt aufteilt, ordnet und bescheibt, selbstverständlich der wirklichen Wirklichkeit entspricht. Je tiefer ein Denker in seiner Muttersprache verankert ist, um so schwerer ist es für ihn, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass andere die Welt auf andere Weise sehen, kategorisieren und somit erkennen könnten. Ihn selbst habe seine Mehrsprachigkeit (er wuchs mit vier Sprachen auf) genau davor bewahrt und ihm die Einsicht ermöglicht, dass es verschiedene Wirklichkeiten gibt[3]

Wilhelm von Humboldt betont, dass die Verschiedenheit der menschlichen Sprachen auch eine Verschiedenheit der Weltsichten mit sich bringt. Er sieht in der Sprache das Urvermögen des Menschen, sich seine Welt zu bilden.[4] Und der amerikanische Ethnologe und Linguist Edward Sapir stellt fest: „Wir sehen und hören und machen überhaupt unsere Erfahrungen in Abhängigkeit von  den Sprachgewohnheiten unserer Gemeinschaft, die uns gewisse Interpretationen vorweg nahelegen“.[5] Der bekannte deutsch-amerikanische Informatiker Joseph Weizenbaum macht eine noch weitergehende Feststellung, auf die ich im Zusammenhang mit dem Thema Sprache für Europa/Verkehrssprache noch zurückkomme: „Jeder Mensch denkt in seiner eigenen Sprache mit den ihr eigenen Nuancen. Die Sucht vieler Deutscher nach englischen Brocken erzeugt dagegen Spracharmut, Sprachgulasch. Ideen können so nicht entstehen“.[6]


2. Abgrenzung Hochsprache – Umgangssprache – Dialekt


Nicht nur große Völker (Deutsche, Franzosen, Engländer, Italiener, Russen, Spanier einschließlich des spanisch-sprachigen Südamerika u. a.) weisen in den verschiedenen Bereichen ihres Sprachgebietes viele regionale Besonderheiten auf. So unterteilen wir z. B. das deutsche Volk in Stämme, (Bayern, Schwaben, Sachsen, Holsteiner, Westfalen, Alemannen u.a.) die unterschiedliche Dialekte sprechen. Die Dialekte haben häufig wieder Untergliederungen bis hin zum Ortsdialekt. Siehe dazu ausführliche Betrachtungen unter 1.232 „Die Deutsche Sprache“.  

Als Beispiel für eine kleinere Sprachgemeinschaft verweise ich auf das Dänische. Im Dänischen gibt es bei ca 5,3 Millionen Muttersprachlern drei Hauptdialekte, nämlich Jütisch oder Festlandsdänisch (das wiederum in Südjütisch = sonderjysk, Westjütisch und Ostjütisch aufgesplittert ist), Inseldänisch mit dem Kopenhagener Dialekt, der als Basis der Reichsdänischen Standardsprache dient, und Ostdänisch, das auf Bornholm gesprochen wird und wiederum mit Südschwedisch (in Schonen) eng verwandt ist. Hinzu kommt noch die Verwandschaft mit Schwedisch und Norwegisch. Alle Sprecher dieser nordgermanischen Sprachen können gut miteinander kommunizieren – es fehlt aber eine gemeinsame überdachende Hochsprache.

Die Wechselbeziehung Dialekt zu Hochsprache nennen wir Diglossie. Unter Diglossie versteht man die Koexistenz einer Hoch- bzw. Kultursprache, die in Behörden und Ämtern, der Kirche, in der Rechtssprechung und in der Literatur verwendet wird und einer Sprache des Alltags (Dialekt oder Umgangssprache). Wenn man diesen Diglossie-Situationen nachgeht, stellt man fest, dass es eine reine Diglossie selten gibt, sondern dass es sich meist eher um eine Polyglossie handelt. Je nach Sprachsituation und Gesprächsteilnehmer wird vom Dialekt zur regional gefärbten Umgangssprache oder zur Hochsprache gewechselt. Häufig spielen dabei auch noch die sozialen Stellungen der Gesprächsteilnehmer eine wichtige Rolle.[7]

Das Kennzeichen einer solchen Diglossie (Dialekt – Hochsprache) ist es aber, dass der Dialektsprecher die Hochsprache nicht als Fremdsprache in Verhältnis zu seiner Muttersprache (Dialekt oder Umgangssprache) wahrnimmt.[8]  Vielmehr ist er sich bewußt, dass die Hochsprache ein wichtiges Bindeglied auf vielen Ebenen des Lebens darstellt, angefangen von der Alphabetisierung über die Wissensaneignung in Schule und Weiterbildung, in der beruflichen Kommunikation und besonders wichtig im kulturellen und religiösen Raum. Martin Luther hat dies erkannt und mit seiner Bibelübersetzung einerseits die Ausbildung der deutschen Hochsprache gefördert, andererseits damit aber auch die Vorausetzung für eine schnelle Verbreitung seiner religiösen Thesen geschaffen. Auch Zeitungen, Zeitschriften und Bücher konnten nur so an eine breite Leserschaft gelangen. Mit der Industriealisierung im 19. Jahrhundert, den damit verbundenen Wanderungsbewegungen und dem zunehmenden Handel in immer größeren Wirtschaftsräumen, wuchs auch die Bedeutung der Hochsprachen.

Hinzu kam im 19. Jahrhundert der Einfluss der Romantik. Beeinflusst insbesondere durch Johann Gottfried Herder meinte man, dass die Volksseele und die Bindung an ein Volk und eine Sprache im Menschen angelegt sei. Tatsächlich haben aber bei vielen Völkern nur wenige „Erwecker“ dieser Volksseele eine echte Sprach- und Kulturgemeinschaft geformt. Meist waren es Dichter, Philosophen, Historiker, Philologen oder andere Intellektuelle. Es waren oft Sprachschöpfer am Werk, wie der griechische Arzt Adamantios Korais (1748-1833), der aus der damaligen griechischen Volkssprache und Elementen des Altgriechischen die moderne Staatssprache Griechenlands entwickelte. Sprachschöpfer in diesem Sinne waren auch der slowakische katholische Priester Anton Bernolak (1762-1813), der die slowakische Grammatica slavica schuf und der serbische Dichter Vuk Stefanovic Karadzic (1787-1864), der eine Volksliedersammlung, eine serbische Grammatik und ein serbisches Wörterbuch verfasste. So wurden viele nationale Hoch- / Kultursprachen erst im 19. Jahrhundert geschaffen und standartisiert. Im ersten italienischen Parlament, das sich 1861 in Turin versammelte, sprach man noch französisch. Dem Dichter Alessando Manzoni (1785-1873) ist es zu verdanken, dass er ein volkstümliches lombardisches Geschichtswerk in eine überarbeitete toskanische Hochsprache übertrug und dadurch aus der Umgangssprache des Florentiner Bildungsbürgertums den Standard der italienischen Nationalsprache geschaffen hat.[9]

Im 20. Jahrhundert hat sich dieser Trend hin zur Hochsprache mit dem Vormarsch von Radio, Fernsehen und digitalen Medien sogar noch verstärkt. Durch die Folgen des 2. Weltkriegs, durch Vertreibung, Flucht, Aus- und Umsiedlung großer Bevölkerungsgruppen hat sich die Notwendigkeit, die gemeinsame Hochsprache zu benutzen, auch als wichtige integrierende Maßnahme gezeigt. Hinzu kam, dass lange Zeit im 20. Jahrhundert der Dialekt als minderwertige Sprache betrachtet wurde und Eltern bemüht waren, mit ihren Kindern nur die Hochsprache zu benutzen, um deren späteres berufliches Fortkommen damit zu untestützen.  Leider sind dadurch viele Dialekte verschwunden, vom Aussterben bedroht oder zumindest rückläufig im Gebrauch – eine bedauerliche Entwicklung, denn gerade die Vielfalt macht die Stärke eines Volkes aus.[10] Inzwischen wurde diese Fehlentwicklung zwar erkannt, aber sie ist wohl kaum zu korrigieren.

Probleme ähnlicher und dennoch verschiedener Art haben Migranten besonders der 2. und folgenden Generation, deren Haus- und Muttersprache die Sprache ihres Herkunftslandes ist, die in der Schule in Deutschland aber in der deutschen Sprache alphabetisiert werden. Hier ist es wichtig, dass diese Kinder zwischen beiden Sprachen unterscheiden lernen. Es ist wenig hilfreich, wenn ihre Eltern versuchen mit ihnen Deutsch zu sprechen, das zwangsläufig ein falsches Deutsch mit falschen Akzenten sein muss. Besser ist es, diese Kinder lernen zu Hause ein einwandfreies Türkisch und kommen früh im Kindergarten, in der Kindertagesstätte, im Sportverein und später in der Schule mit der deutschen Sprache in Berührung. Siehe dazu meinen ausführlichen Post Migration - Integration - Assimilation.

Aufgrund der vorstehenden Entwicklungen ist zwar häufig ein Rückgang der Dialektsprecher zu beobachten, aber umso mehr werden umgangssprachliche Formen der Hochsprache benutzt. Von Sonderfällen (z.B. Deutsch-Schweiz) abgesehen, wird heute bei überregionalen Anlässen die Hochsprache des Landes benutzt. Die genormte Form ist jedoch häufig nur der Schrift vorbehalten (und dem Nachrichtensprecher in Funk und Fernsehen). Im Unterschied zur Schriftsprache wird beim mündlichen Gebrauch  eine regionale „Einfärbung“ bei vielen Anlässen nicht als störend, sondern als bereichernd empfunden.

Allerdings muss man auch feststellen, dass die Grenzen zwischen Dialekten und selbstständigen Hochsprachen schwer zu definieren sind. Die Sprachwissenschaft liefert keine eindeutigen Antworten und bei einer offiziellen Entscheidung spielen sozio-psychologische und politische Faktoren eine Rolle. So hat man bei der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen darauf verzichtet, eine Liste der europäischen Sprachen aufzustellen, weil man unnötige Diskussionen befürchtete. Dies ist sicher eine Schwäche der Charta, zeugt aber auch von politischem Realismus.[11] Beispielhaft sei auf die Slawo-mazedonische Sprache hingewiesen, die von den Bulgaren als ein Dialekt des Bulgarischen angesehen wird. An anderer Stelle habe ich auf die Problematik hingewiesen, den moselfränkischen Letzeburger Dialekt zur Staatssprache Luxemburgs zu machen.[12]



3. Beispiele kultureller Verschiedenheiten


Der bereits erwähnte Benjamin Lee Whorf stellt in seinem Buch „Sprache – Denken – Wirklichkeit“ fest, dass das Denken der Menschen aus verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen eine höchst rätselhafte Sache ist, über die man ausschließlich durch das vergleichende Sprachstudium mehr erfahren kann. Dabei komme man zu der Erkenntnis, dass die Formen des persönlichen Denkens durch unerbittliche Strukturgesetze  der eigenen Sprache beherrscht werden.

Die mit ihrer Sprache und Kultur aufgewachsenen Menschen denken und handeln nach bestimmten Regeln, die für das Verstehen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft unentbehrlich sind. Wer eine Fremdsprache lernt, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass jede Sprachgemeinschaft anders denkt und die objektive Wirklichkeit in ihrer Sprache anders ausdrückt. Wer eine Fremdsprache lernt und sich nur Vokabeln und Grammatik einprägt,  ohne die kulturelle Tradition einer Sprachgemeinschaft kennen zu lernen, wird häufig Kommunikationsprobleme haben und kann sich peinlichen Missverständnissen aussetzen.

Um dieses Phänomen zu verdeutlichen möchte ich nun einige Beispiele anführen. 

Falsche Freunde (engl.: false friends, franz.: les faux amis)


Beim vergleichen zweier oder mehrerer Sprachen treffen wir immer wieder auf Worte, die eine gleiche oder ganz ähnliche Form haben, so dass man fälschlicherweise glaubt, sie würden auch dasselbe bedeuten. Dies führt zur falschen Verwendung und ist eine unversiegbare Quelle von sprachlichen Fehlleistungen und damit Missverständnissen.

► das englische „Exit“ ist uns als Ausgang oder „Emergency Exit“ (Notausgang) von internationalen Flughäfen und Bahnhöfen geläufig. Im spanischen und portugiesischen  bedeuten aber el éxito / o éxito das gute Gelingen, den glücklichen Ausgang (einer Sache)

►éventuellement (franz.) und eventuell (deutsch) bedeuten „unter Umständen, möglich, etwaig“. Im Englischen bedeutet „eventually“ jedoch „am Ende, schließlich.

►Das deutsche Wort „Gift“ ist im englischen keineswegs eine gefährliche Substanz, sondern der Empfänger freut sich über ein Geschenk. (im Deutschen erinnert an diese Bedeutung noch das Wort „Mitgift“).

Falsche Freunde lauern überall und gerade dort, wo sich Sprachen sehr ähnlich sind. Wenn sich Deutsche und Niederländer, Italiener mit Spaniern, Dänen mit Schweden oder Polen mit Tschechen unterhalten, begegnen sie den Gesprächspartnern immer wieder und führen entweder zum Lachen oder zur Peinlichkeit.

►deutsch Uhr ist niederländisch klok, während niederländisch uur deutsch die Stunde bedeutet, aber im Deutschen sagen wir auch es ist 4 Uhr. Im Englischen dagegen steht clock / o’clock für Uhr und Stunde.

Der deutsche Struwelpeter wird im niederländischen zum Piet de Smeerpoets (oder Smeerpoes) was rückübersetzt soviel wie Dreckfink, Dreckspatz, Schmierfink bedeutet. Wer in Holland in einer Gaststätte einen sterke oder strak Max („Strammen  Max“) bestellt wird ebenso ungläubig angeschaut, wie der Holländer, der in Deutschland einen Rausschmeißer (uitsmijter) ordert.

Alexandra Kleijn hat in ihrem Blog https://www.buurtaal.de/blog/falsche-freunde eine ganze Liste falscher Freunde aufgeführt, die wechselseitig für Deutsch- und Niederländischsprachige unbeabsichtigt zu komischen, manchmal auch peinlichen Situationen führen können. Nur zwei davon möchte ich zitieren:
► In Deutschland bellen (meist) die Hunde, in den Niederlanden die Menschen. „Bellen“ heißt dort nämlich telefonieren, anrufen oder klingeln. Die unterschiedliche Bedeutung kann in beiden Ländern für Erheiterung sorgen. Denkt der Niederländer beim Ausdruck “Bellende Hunde beißen nicht” sofort an telefonierende Haustiere, so ist der Deutsche sicherlich irritiert, wenn er den von Niederländern gern benutzten Abschiedsgruß “We bellen” (wir telefonieren noch) hört.
►Eine Delle im Auto bedeutet für den Deutschen einen kleinen Karosserieschaden. Im niederländischen ist „Del“ aber eine ordinäre, sittenlose Frau, eine Schlampe oder Nutte / Hure. Wenn man einem Niederländer also sagt: „Du hast eine Delle im Auto“, so wird der über eine solche angebliche Mitfahrerin sicher irritiert reagieren. 

Bei entfernteren Sprachen wie deutsch und polnisch kommt hinzu, dass jede Sprache ein eigenes kulturspezifisches Bedeutungssystem hat. Darauf weist Izabela Bawej in ihrem lesenswerten Aufsatz „Der fremdsprachliche Fehler im Kontext der Kultur“ hin.[12a)]

Sprache ist zugleich die Kultur und das Produkt der Kultur des jeweiligen Sprachraums. So gibt es in jeder Sprache Sprichwörter, Phrasen, Aphorismen und Märchen / Sagen / Anekdoten, die Ausdruck der jeweiligen Sprachgemeinschaft sind. Bestimmte Wörter haben einen Bedeutungsinhalt, der anderen Sprachgemeinschaften fremd oder unbekannt ist. Denken wir nur an Deutsche Weihnachten, Deutscher Wald oder deutsche Gemütlichkeit, Begriffe die man mit ihrem spezifisch deutschen Inhalt in andere Sprachen nicht übersetzten kann. Siehe dazu meinen Post "Deutsche Sprache". Bestimmte Wörter oder Sätze kann man nur begreifen, wenn man den kulturellen Hintergrund kennt. Izabela Bawej schildert einige Beispiele Polnisch / Deutsch, wenn der Deutsch lernende Pole in einem Gespräch mit Deutschen versucht, bestimmte Redewendungen wörtlich zu übersetzen:


► „szewski poniedziałek“ wird zu „Schusters Montag“ statt blauer Montag
►“pracować jak wół“ wird zu „arbeiten wie ein Ochse“ statt arbeiten wie ein Pferd
►“Jak cię widzą tak cię piszą“ wird zu „Wie du gesehen bist, so bist du beschrieben“ statt Kleider machen Leute

►Wenn andererseits ein Pole aus deutschem Munde hört, dass er Schwein hat, muss er wissen, dass diese Wendung bedeutet, dass er Glück hat. Polen, die nur geringe Kenntnisse der deutschen Sprache haben, fühlen sich sonst entweder beleidigt (sie meinen, dass man sie als Schwein bezeichnet hat) oder wundern sich, warum jemand meint, er hätte ein Schwein als Haustier.


Besonders schwierig ist es gute Dichtung und Literatur von einer Sprache in die andere zu übertragen. Mario Wandruska [12b] schreibt: „Dichtung ist das schöpferische Spiel mit der (Mutter-) Sprache, in dem jeder Laut, jede Silbe, jedes Wort, jeder Satz und das ganze Werk so und nicht anders ihren besonderen Sinn ergeben." Als Beispiel nennt er das aus sieben Silben bestehende Gedicht des Italieners Giuseppe Ungaretti:


                             M’ILLUmino

                             D’IMMENSO



Er denkt dabei an einen Sonnenaufgang über dem Meer, den Blick hinunter ins Tal und hinauf zum Horizont. Ingeborg Bachmann hat dafür die bestmögliche deutsche Übersetzung gefunden:



                             Ich erleuchte mich

                             durch Unermessliches



Aber jeder Leser – auch wenn er die italienische Sprache gar nicht kennt – wird erahnen, welche Unterschiede in der Aussage und dem gefühlten Nachklang vorliegen. Um gute Übersetzungen leisten zu können, muss man in zwei Sprachen leben, in einer zweifachen verstehenden Mehrsprachigkeit. Geglückte Übersetzungen sind daher stets auch Neuschöpfungen, die die kulturelle Verschiedenheit in der übersetzten Sprache einfangen und mit neuem Leben füllen.




4. Welche Sprache für Europa? Englisch als Weltsprache?

So fragt Claude Hagège in seinem gleichnamigen Buch[13] und fügt als Untertitel hinzu „Verständigung in der Vielfalt“. Dem kann ich mich nur aus voller Überzeugung anschließen. Europa ist nicht Amerika, wo es sicher richtig war eine gemeinsame Sprache für die unterschiedlichen Einwanderer anzustreben (Englisch, spanisch, portugiesisch), zumal in allen amerikanischen Staaten die vorhandenen einheimischen Sprachen schnell in der Minderheit waren und zudem von den europäischen Einwanderern nur schwer zu erlernen waren, auch waren sie zu zersplittert und es war kein Standard für sie vorhanden.

Anders in Europa, wo wir als Ergebnis der Geschichte eine Vielfalt gewachsener und traditioneller Sprachen haben, die alle zur kulturellen Vielfalt unseres Kontinents ihren mehr oder weniger großen Beitrag geleistet haben.  Unter diesem Eindruck hat bisher die Europäische Union die Sprachenvielfalt zu ihrer Grundlage gemacht, auch wenn dies einen erheblichen Aufwand für den Übersetzungsdienst und die Veröffentlichungen bedeutet. Deshalb kommt der bereits zitierte Claude Hagège zu dem Ergebnis, dass die Europäer neben ihrer Muttersprache möglichst viele Fremdsprachen beherrschen sollten und führt wörtlich aus: „Als Bürger eines vielsprachigen Kontinents müssen die Europäer für die polyphone Botschaft  der menschlichen Sprachen aufnahmebereit bleiben. Das Hinhören auf den anderen, der seine eigene Sprache spricht, ist die unabdingbare Voraussetzung, wenn man eine konkrete Solidarität schaffen will.[14]

Es gibt aber auch immer wieder Tendenzen, das Englische als verbindende oder gar verbindliche Gemeinschaftssprache festzulegen. Leider vermisse ich hier manchmal den entschiedenen Widerspruch der Deutschen (siehe meinen Post 1.232Deutsche Sprache“), aber auch der Franzosen, Spanier oder Italiener.



Hans Joachim Meyer schreibt in einem Beitrag für die Zeitschrift „Hirschberg“,[15]

dass er als Anglist gewiss frei von jedem antienglischen Affekt sei. Dennoch sage er voller Überzeugung, wäre ein Ruf nach einem „English only for Europe“ erfolgreich, dann wäre unser Europa bald eine Dependance des „American Way of Life“. Er betont an anderer Stelle, dass die kulturelle Vielgestaltigkeit Europas untrennbar verbunden ist mit seiner Mehrsprachigkeit. Kulturelle Vielgestaltigkeit und Mehrsprachgkeit seien geradezu europäische Wesensmerkmale. Dieser europäische Vorzug drohe unter dem imperialen Druck des Englischen verloren zu gehen. Er stellt fest, dass die Brüsseler Kommission linguistisch nicht besonders intelligent sei und diese Tendenz gedankenlos unterstütze.


Erfreulicherweise unterstützte eine im Jahre 2008 von der EU-Kommission einberufene Gruppe europäischer Intellektueller diese Tendenz keineswegs,  
Vielmehr forderte diese Gruppe  die Abkehr vom Englischen als zentraler europäischer Verkehrssprache. Aus dem mit „Rettet das Englische - Europäische Intellektuelle fordern den Verzicht auf die schwer strapazierte Sprache“ übertitelten Artikel der Welt[16] zitiere ich nachstehend:

Die Europäer sollten die sprachliche Vielfalt ihres Kontinents nicht als Last, sondern als Reichtum begreifen und mindestens eine "persönliche Adoptivsprache" als "zweite Muttersprache" lernen. In den Beziehungen der EU-Staaten untereinander solle auf Englisch als Drittsprache verzichtet werden.
Der englischen Sprache wird das gut tun. Jedem ihrer wirklichen Liebhaber bereitet es doch Seelenqualen, dass sie von allzu vielen unberufenen Mündern herumgekaut, entstellt und am Ende gedankenlos ausgespuckt wird. Längst hat das Englische den Charakter einer Sprache verloren. Es gilt zwar als Weltsprache, aber es ist nur noch ein allen kulturellen und geschichtlichen Fleisches entkleidetes Kommunikationsmittel. Und mit diesem Skelett einer Sprache bearbeiten sich Geschäftsleute, Politiker, Wissenschaftler und ganz normale Touristen überall zwischen Ulan Bator und den Bahamas. Es ist zum Fürchten.
Deshalb ist es uneingeschränkt zu begrüßen, dass Europa sich nun endlich ermannt, diese "Kulturschande" zu beenden. Deutsche und Franzosen sollen künftig deutsch und französisch miteinander reden, Polen und Ungarn polnisch und ungarisch und so weiter. Allerdings, das gehört zu Europa wie der Schimmel zum Gorgonzola, warnen die europäischen Intellektuellen vor jeglichem Eurozentrismus. Heute sieht man ja, wo man hinschaut, nichts als Migrationshintergründe. Die Europäer sollten also darüber nachdenken, ob sie statt Lettisch oder Slowenisch lieber Arabisch, Kisuaheli oder Mandarin adoptieren. Das wird ein Reichtum! Und das Englische kann sich endlich erholen.
Dem ist nicht nicht viel hinzuzufügen, außer der Anmerkung, dass es sicher richtig war aus praktischen Gründen drei Arbeitssprachen für die EU festzulegen. Aber auch hier kommt es darauf an, dass Französisch und Deutsch ihren Platz nicht gedankenlos an das Englische abgeben.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist jedoch zusätzlich vor allem für Wissenschaftler zu beachten, die das Ergebnis ihrer Arbeit inzwischen nicht in ihrer Muttersprache sondern auch in Englisch publizieren. Auch sie tun damit weder sich noch der übrigen Fachwelt einen Gefallen, denn im Grunde genommen publizieren sie nicht in Englisch, sondern in „Globisch“. So nennt es Dpl. Ing. Oliver Baer in seinem Buch[17]. Er sagt, dass die meisten Benutzer des Englischen ja keine Muttersprachler sind und daher reden und schreiben, wie sie es können, es bleibt aber ein beschränktes Englisch, das mit der englischen Hochsprache nicht in einem Topf verrührt werden sollte.
Stattdessen sollten Deutsche sich auf Deutsch besinnen. Der Aufwand für Englisch von der KiTa bis zur Hochschule, das modische Geschwätz in Wirtschaft und Medien blockieren nach Meinung Baers nur unsere Wahrnehmung der deutschen Sprache. Wissenschaftliche Veröffentlichungen sollten unbedingt in der Muttersprache abgefasst werden, weil man nur in dieser denkt und umfangreich seine Gedanken niederlegen kann. Wenn man darüberhinaus dann in Englisch publizieren möchte, sollte man einen muttersprachlichen Übersetzer einschalten.
Selbst der muss dann aber noch darauf hinweisen, dass Angelsachsen z. B.  eine andere Einleitung gewohnt sind als wir Deutschen. Ihre ist wie ein Plädoyer vor Gericht, unsere besteht aus einer Begriffsbestimmung. Das guckt sich der Harvardkollege an und – legt es weg. Die Angelsachsen denken anders als wir – nicht besser, nicht schlechter: anders! Und wir müssen die Einleitung für sie neu schreiben.[18] Es bleibt zu hoffen, das möglichst viele Politiker, Wissenschaftler und Geschäftsleute sich diesen Appell zu Herzen nehmen und umdenken.




[2] Guy Héraud: „Die Völker als Träger Europas“ S. 17
[3]  Benjamin Lee Whorf: „Sprache – Denken – Wirklichkeit“  Rowohlt Taschenbuch 1985, S. 52f -
Ernst von Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. Braunschweig/ Wiesbaden 1987, S. XII. – siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_von_Glasersfeld
[4] zitiert nach Mario Wandruszka: „Die Mehrsprachigkeit des Menschen“, S. 143
[5] zitiert nach Benjamin Lee Whorf: „Sprache – Denken – Wirklichkeit“  Rowohlt Taschenbuch S. 74
[7] Mario Wandruszka: „Die Mehrsprachigkeit des Menschen“ , dtv-Sachbuch, S. 24 u.a.
[8] Sprachenpolitik in Mittel- und Osteuropa, darin Konrad Schröder: „Sprachen und Sprachenpolitik im Europäischen Haus“ , S. 113
[9] Diese Angaben fand ich in dem Buch von Hagen Schulze: „Staat und Nation in der europäischen Geschichte“, Verlag C.H.Beck, München 1995, S. 174-177
[10] Den bereichernden Einfluss der Dialekte auf die deutsche Sprache siehe unter 1.232 Deutsche Sprache
[11] Volksgruppen im Spannungsfeld von Recht und Souveränität in Mittel- und Osteuropa (Ethnos Schrift Nr. 40) S. 292
[12] Siehe 2.0105 Luxemburg – ein Sonderfall
[12a] Erscbienen in Scripta Neophilologica Posnaniensia, Tom IX
[12b]Mario Wandruszka: „Die Mehrsprachigkeit des Menschen“ - dtv-Sachbuch 1981
[13] Claude Hagège „Welche Sprache für Europa“ Campus-Verlag 1996
[14] wie vor, S. 231


[15] Hans Joachim Meyer: "Europa als Chance für Frieden und Freiheit“ Hirschberg (Herausgeber Bund Neudeutschland – KMF e.V.) Heft  07-08/2013
[16] Die Welt v. 1. 2. 2008, Eckhard Fuhr: Rettet das Englische“
[17] Oliver Baer:„Von Babylon nach Globylon - Renaissance der Muttersprachen“ Verlag IFB Deutsche Sprache GmbH, 1. Auflage, Paderborn 2011, 
[18] zitiert nach einem Gespräch mit den Sprachnachrichten des Vereins Deutsche Sprache VDS. Dortmund 2012

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